Chiron – Regent der Jungfrau

Der Kleinplanet Chiron hat seit seiner Entdeckung 1977 einen rasanten Aufstieg innerhalb der Astrologiegemeinde weltweit genommen. Er wird inzwischen wie selbstverständlich in die Horoskopgraphik eingefügt und es gibt viele Diskussionen über seine Wirkung und Zuordnung. Chiron gehört zu den sogenannten Kentauren, eine Gruppe von Meteoriten wie Pholus oder Nessus, die zwischen der Umlaufbahn von Saturn und Uranus kreisen. Damit sind sie alle Vermittler zwischen der sichtbaren und unsichtbaren Welt des Sonnensystems. In der Mythologie sind Kentauren wilde Gesellen. Halunken und Vagabunden ohne Kultur, die von dem leben, was sie gerade kriegen können. Chiron ist ein Außenseiter unter ihnen und hat ein Handicap. Er ist kein ‚reiner‘ Kentaur, sondern ein ‚Mischling‘, symbolhaft als ‚halb Pferd-halb Mensch‘ Inkarnation beschrieben, was eine gewisse Tragik seines Schicksals anzeigt.

Er war ein unerwünschtes Kind und wurde aus seiner Familie ausgeschlossen. Sein Vater war der Titan Kronos, der Sohn des Uranus, der die Frau seiner Begierde schwängerte, indem er sich in einen attraktiven Hengst verwandelte, nachdem sie vor ihm in Stutengestalt fliehen wollte. In die Moderne übersetzt würde man von Patchwork und dem Problem des abwesenden Vaters sprechen. Filiria zog sich bald in die Berge zurück und brachte ein Kind mit einem Pferdefuß zur Welt. Aus Scham ließ sie sich von Zeus in einen Baum verwandelt und so wuchs Chiron lange allein neben diesem auf, bis ihn Artemis und Apollon adoptierten und in vielen Künsten lehrten. Aber auch in dieser Familie war er ein Fremdkörper und wurde früh selbstständig, was auf eine gute Resilienz hinweist. Kronos hatte einst seinen Vater Uranus mit der Sichel entmannt und so trägt Chiron die väterliche Verratsgeschichte in sich, die auch der Sonnengott Apollon, der ihn fortan erzog, nicht erlösen konnte.

Chiron ist von klein auf vertraut mit den Untiefen menschlicher Rachsucht, Neid und Rücksichtslosigkeit. Später im Leben wurde es dann besser. Er wurde Lehrer, heiratete die wunderschöne Nymphe Chariclo, die Tochter des Apollo, und hatte die Tochter Okyroe mit ihr, die später von Zeus in eine Stute namens Hippo verwandelt wurde, weil sie unerlaubt geweissagt hatte. Jedenfalls emanzipierte sich Chiron früh von den Handlungen seines wilden Stammes und wurde zu einem ausgezeichneten Lehrer der wichtigsten Gestalten der griechischen Mythologie wie Jason, Hippolytos, Odysseus, Theseus, Kastor, Aineias, Aristaios, Aktaion, Asklepius und Herkules, die alle zu seinen Schülern zählten. Er lehrte sie die Wissenschaft und Geschichte, aber auch die Kunst des Lautenspieles und der Heilung. Besondere Fürsorge ließ er Peleus zuteilwerden, der ein Enkel seiner Tochter Endeis und ihrem Gemahl Aeacus ist. Er rettet ihn vor den Kentauren, verschafft ihm sein Schwert, und seine Gemahlin Thetis, und schenkt ihm zur Hochzeit eine escherne Lanze, die später von Helden zu Helden (u.a. Achilles) weitergegeben wird. Motive, die wir im Christentum, im Parzivalmythos und vielen anderen Einweihungsgeschichten später wiederfinden.

Wir sehen wie im Christusmythus das Erleben einer dualistischen Welt angelegt. Leid und Freude liegen eng beieinander. Diese irdische Welt ist eine polare. Man kann in ihr allein kein Glück erringen, sondern muss sich weiterentwickeln und nicht versuchen, am Erreichten festzuhalten. Wir lernen durch Krisen mit anderen Menschen und müssen uns miteinander einig werden, um Heilung zu erfahren. In jeder Beziehung geschieht es immer wieder, dass wir uns unbewusst gegenseitig verletzen und die Wunden des anderen aufrühren. Heilung ist vor allem dann möglich, wenn die dahinterstehenden Muster erkannt werden und ein psychologisches Wissen erarbeitet wird. Das ist das Prinzip des Chirons. In der Jungfrau kommen seine Verstandesqualitäten als Lehrer besonders gut zur Geltung. Er weiß, welche Aufgaben für ihn realistisch durchführbar sind und welche nicht. Es ist ein bewusstes Entscheiden für das Machbare. Nur einer kann hier Recht haben, weshalb die Jungfrau oft sehr einsam ist. Sie entscheidet von Situation zu Situation, was ihr den Ruf einbringt, sich nicht festlegen zu wollen. Aber es ist ihre Gründlichkeit, mit der sie auf Dauer Erfolg hat.

Die Sternbilder des Zentauren und der Hydra liegen eng beieinander über dem Kreuz des Südens unter dem Skorpion. Sie sind in unseren Breitgraden aber nur bedingt sichtbar.[1] Chiros bedeutet die Hand. Daher kommen auch Begriffe wir Chiromantie und Chirologie, wo mit den Händen geheilt wird. Auch das Sternzeichen Jungfrau ‚hantiert‘ gerne mit etwas. Chiron steht für den Einzelgänger, der sich in der Abgeschiedenheit der Klausur das Wissen aneignet, das ihn befähigt, zum Lehrer zu werden. Chirons Schüler trugen seine Lehre fort in die Welt. Jason z.B. stahl mit seinen 50 Argonauten das goldene Vlies, was eigentlich als unmöglich galt. Medea verliebte sich in Jason und gab ihm ein Zaubermittel, das ihn unverletzlich machte. Er bekam dafür nicht den Königstitel, sondern fand seinen Vater ermordet auf, worauf Medea den Mörder ermordete usw. usw. Chiron rieb sich dabei nur die Augen, was seine Helden so anstellten. Asklepios hat er in der Heilkunde unterwiesen (Äskulapstab) und Achilles im Lyraspiel. Sie wurden teils als junge Knaben schon bei ihm in Obhut auf dem Berg Pelion bei Thessalien gegeben. Seine Helden erlebten die ungewöhnlichsten Abenteuer. Aber nie fand er selber einen richtigen Freund, einen männlichen Gefährten, der ihn verstand.

Mit einer Chironbetonung im Horoskop ist oft das Gefühl verbunden, dass etwas fehlt im Leben und den Beziehungen. Es muss wie im Mythos von Sisyphos immer wieder neu erarbeitet werden, was eigentlich selbstverständlich erscheint. Besonders bei harten Aspekten zu persönlichen Planeten wie der Sonne, Mond, Venus und Mars können immer wieder Wunden aus dem Gefühl, allein zu sein und nicht verstanden zu werden, aufreißen. Das ist genau umgekehrt wie bei Lilith, die aus der Fülle der Beziehungen die Einsamkeit sucht und sich am wohlsten in den wenigen Momenten fühlt, wenn sie unabhängig von allen menschlichen Abgründen ist. Die Suche nach einer erfüllenden Partnerschaft scheitert bei beiden aus unterschiedlichen Gründen immer wieder, was zu einem Wiederholungszwang werden kann, in dem das Gegenüber als Objekt austauschbar wird. Intimität wird bei chironischen Themen vermieden und bei kleinsten Unstimmigkeiten wird eine Mauer errichtet. Leicht schaukeln sich Kleinigkeiten auf und die Wunden verheilen nur schwer. Jede Beziehung enthält aber auch ein Heilungspotential. Je besser wir mit den Erwartungshaltungen an den anderen und uns selbst zu Recht kommen, desto mehr werden wir befähigt, das Wunder in jeder Begegnung zu begreifen und zu lernen, uns daran aufzurichten. 

Chiron hielt sich wie gesagt aus dem rauen Umgang seiner Mitbrüder heraus und kultivierte lieber seine musischen und logischen Fähigkeiten. Eines Tages aber wurde er in einem Tumult mit Herakles verwundet, als einer seiner mit dem Blut der Hydra vergifteten Pfeile versehentlich Chiron traf. Die Wunde wollte und wollte nicht heilen. Damit musste er sein Leben umstellen. Er begann sich fortan mit Heilkunde zu beschäftigen und entdeckte darin seine eigentliche Bestimmung. Als Gott war er unsterblich, aber die Verletzung erinnerte ihn an die Leiden derjenigen, die nicht als Götter geboren waren. So war sein Leben fortan den Schwächsten gewidmet. Die Wunde ist eigentlich eine seelische. Sein Vater Kronos hatte ihn ja schon abgelehnt und ihm den Hinkefuss angehext, damit er nicht als sein Sohn erkannt würde. So wie er schon unter der Zurücksetzung seiner Kentaurenbrüder litt, so war die Wunde auch ein äußerlich sichtbarer Ausdruck einer inneren Verletzung. Das Marsprinzip ist nicht so leicht mit Chiron vereinbar.[2] Er ist eher ein sensibler und zurückhaltender Zeitgenosse und verabscheut Gewalt. Jungfrau und Stier bilden auch ein Trigon, und so sind Chiron und Venus eher vereinbar, als Chiron und Mars.[3]