Der gebildete Kentaur

Chiron leidet unter seiner Liebe für die Welt und die Geschöpfe, die er nicht adäquat ausdrücken kann. Als Mentor begleitet er viele junge Menschen in das Erwachsensein, doch selbst findet er keine Lösung für seine eigenen Seelenqualen, kein wirkliches Ziel für sein großes Herz und die Liebe, diesen Strom von Energie, den wir empfangen und senden, und der durch alles hindurch unbeeinflussbar seinen Weg findet, um sich selbst glücklich zu machen. Als Single fühlt sich der Chironiker unterentwickelt, nicht ausgereift. Er kann die Einsamkeit, die er doch so oft hat, nicht ertragen. Aber seine Andersartigkeit in Hinsicht auch das Denken, die Sexualität oder die gesellschaftliche Position unter den Menschen, unter denen er sich befindet, isoliert ihn immer wieder. Erst wenn er seine kongenialen Partner im Leben gefunden hat, wird seine histrionische, selbstunsichere Persönlichkeit mutiger und die Augenblicke des Selbstzweifels weniger.

Chiron hat die Fähigkeit, anderen Menschen besondere Momente zu bescheren. In den seltenen Augenblicken, wo er mit sich im Reinen ist, entfaltet er seine tiefgreifenden Analysen, die Menschen nachhaltig beeinflussen können.  Die Griechen nannten diesen magischen Augenblick ‚Chiros‘ im Gegensatz zu der regelmäßig wiederholenden Zeit des Chronos. Es ist eine plötzliche Kraft, die aus der plötzlichen Loslösung des quälenden Daseins entsteht und in dem sich unser Herz ganz öffnet und wir ohne Vorbehalt Ja zum Leben sagen. Besonders wenn Chiron mit Qualitäten des Deszendenten verbunden ist, suchen andere Menschen an Chiron diesen Gegenpol des Neptunischen. Das starke Spannungsfeld zweier Personen mit extrem verschiedenen Ansichten löst sich auf und wird zu einer geheimnisvollen Verbrüderung. Leider währt dieser Moment immer nur kurz und so können wir seines Geheimnisses nie Herr werden. Auch Goethe legte seinem chironischen Helden Faust das Wort in den Mund: „Werd ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! Du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehn!“ (V 1699–1702). Und ein wenig später: „Wie ich beharre, bin ich Knecht, / Ob dein, was frag ich, oder wessen.“ Das ist die Szene im Studierzimmer, in der Faust dem Mephistopheles eine Wette vorschlägt. Er wettet, dass es Mephistopheles nicht gelingen wird, ihn von seinem Streben nach immer mehr Wissen abzubringen: Wenn Faust sich aus dem Streben nach Wissen in die Bequemlichkeit verabschiede, so Fausts Angebot, dann dürfe ihn Mephistopheles ins Verderben mitnehmen – dann solle dies sein letzter Tag sein. 

Wenn man sich nicht davon abbringen lässt, seinem inneren Wesen weiter nachzueifern, entsteht die Fähigkeit zur Integration schwieriger Energien. In dem Moment, wo ich begreife, dass alles, was ich erlebe, aus meinem eigenen Impuls der ‚Marskraft‘ entsprungen ist, kann ich das scheinbar Fremde in jedem anderen integrieren, weil ich keine Angst mehr vor unüberlegten Reaktionen haben muss. Wir kennen diese Vorahnungen einer neuen Begegnung, wenn etwas Heilsames in unser Leben tritt. Chiron ist umgeben von Sehern wie seine Frau und Tochter und geistigen Energien seiner philosophisch gebildeten Schüler. Er vermittelt ihnen das Gefühl, etwas Neuem zu begegnen und etwas bewusst zu werden, obwohl es uns vielleicht schon für Äonen vertraut ist. Nur Chiron selbst kann diesen Augenblick für sich nur schwer herbeirufen. Heute wäre er der einsame Vernetzer, Influencer oder Gatekeeper, der im Hintergrund die Fäden zieht und doch nur wenig Anerkennung für seine Leistung findet.

Wir kennen den Zauber einer Kommunikation, die aus dem Nichts zu entstehen scheint und sich ansteckend über einen ganzen Raum von Menschen verbreiten kann. Dies ist die chironische Energie, die durch ihre Ableitung in der Opposition zu Neptun erkennbar wird, die in der Selbstreflexion angesichts des unfassbaren Ganzen mündet und in der Bescheidenheit, sich auf den Ausschnitt zu beschränken, in dem wir uns nüchtern uns verantwortungsvoll bewegen können. Indem jeder Mensch einer Gemeinschaft diesen Platz zu ergreifen in der Lage ist, und dem 6. Haus entsprechend eine bezahlte Arbeit hat, die ihn im Alltag erfüllt, entsteht mehr als die Summe der Einzelteile. Alle religiösen Lehren zielen auf diesen Punkt der Erlösung, des Samadhis in der ganz gewöhnlichen Tätigkeit des Alltags, in dem der Mensch sich selbst vergisst und mit seiner Umgebung verschmilzt. Und leider manchmal auch, dafür den gerechten Lohn zu verlangen.

Die Gesellschaft profitiert von dem Dienst des Einzelnen, der Anspruchslosigkeit in der Beziehung und der Konzentration auf seine Aufgaben in der Familie.  Deshalb fördert sie auch Tätigkeit, die nicht unbedingt direkt mit Gewinnerzielung zu tun haben. Es geht bei dem Thema Chiron, Jungfrau, 6. Haus nicht nur um Effizienz, sondern auch um die Akribie, mit der für andere sich unangenehme Aufgaben bewältigt werden. Das Feld der Wissenschaft, das wir Chiron zuordnen, kann nur in einer Welt entstehen, in der soziale Teilhabe funktioniert und der Mensch im Mittelpunkt steht und nicht die Technik. Wird sie nur Selbstzweck, dann hauen die vernachlässigten Brüder Chirons schnell alles wieder zu Klump. Das Forschen nach Wahrheit und Fortschritt kann nur auf einem Fundament der Selbstbescheidung aufbauen und dem Verzicht auf alleinige Wahrheit. Doch das Scheitern gehört zum Leben und muss auch Menschen wie Nosferatu, Frankenstein oder Hannibal Lecter, die allesamt chironische Gestalten sind, trotz allen besseren Wissens immer wieder zugestanden werden.

Eine ähnliche Figur, die das menschliche Leiden an der eigenen Unzulänglichkeit gut zusammenfasst, ist der Mythos des Sisyphos. Die Vorlage zu ihm lieferte wahrscheinlich der griechische König von Korinth, der um 1400 v. Chr. lebte. Dieser Sisyphus galt als gerissener Geschäftsmann, der nicht nur sein Reich vergrößerte, sondern auch der Volkssage nach dem Gevatter Tod unerschrocken ein Schnippchen schlug. Als Zeus die Tochter des Flussgottes Asopos entführte, verriet er den mächtigen Herrscher des Olymps. Dieser schickte ihn in das Todesreich, um ihm eine Lektion zu erteilen. Dort begegnet er auch deren Büßern, wie dem Tantalus, der für seinen unstillbaren Hunger nach sinnlichem Genuss bestraft wurde oder Ixion, der seine Verwandten ermordete. Gelangweilt von solch Gesellschaft überlistete Sisyphos den Thanathos, machte ihn betrunken, fesselte ihn, stoppte den Zustrom des Hades und entfloh. Dadurch starb zunächst niemand mehr, was wiederum den Kriegsgott Ares ärgerte, weil auf dem Schlachtfeld alle überlebten. Er befreite Thanatos, der Sisyphos erneut einkerkerte.

Bevor Ares dies getan hatte, hatte Sisyphos seiner Frau Merope verboten, ihm ein Totenopfer darzubringen, um seine Anwesenheit im Reich der Lebendigen zu vertuschen. Als keine Opfer für ihn dargebracht wurden, überredete er Thanathos, ihn schnell in die Menschenwelt zurückkehren zu lassen, um seiner Frau zu befehlen, für ihn ein Totenopfer zu halten. Wieder zu Hause, genoss der Listige das Leben an der Seite seiner Frau und spottete über den Gott der Unterwelt. Nachdem er wieder von Thanatos eingefangen wird, wird er nochmal ins Reich der Lebenden zurückgeschickt, um die angerichteten Schäden zu richten. Dadurch entgeht er ein weiteres Mal dem Tod. Da er aber auch andere Vergehen begangen, wird er schließlich wieder eingefangen und dazu verurteilt, einen Felsblock für ewig einen Berg herauf zu schleppen, damit er nicht wieder entflieht. Das geschieht einem also, wenn man sich als Angehöriger der Oberschicht unvorsichtigerweise mit seinesgleichen anlegt.

Ein sinnlos erscheinendes Leiden führt zu einer Bestimmung. Das ist ebenfalls die Lehre des 6. Hauses. Durch die Wiederholung einer einfachen Tätigkeit gewinnt man Abstand von einstigen Verirrungen. Auch Camus beschreibt in seinem Buch ‘Der Mythos des Sisyphos’ die Widersprüchlichkeit eines durch die Absurdität äußerer Umstände hervorgerufenen Schicksals, und wie der Mensch gerade durch ausweglos erscheinende Lagen inspiriert werden kann, sein fatal erscheinendes Schicksal zu verändern. Die Sinnlosigkeit der menschlichen Katastrophe wird bei ihm zur Quelle der Selbstverwirklichung, ja sogar des Genusses und die Absurdität des Gedankens an Suizid zum eigentlichen Motor der Evolution. Denn in ihm liegt die Möglichkeit der Erlösung und das Ende aller Qualen.

Auch die altindische Legende von Naranath Bhranthan geht in diese Richtung. Dieser wälzte auch einen Stein immer wieder auf den riesigen Naranamberg und freute er sich diebisch daran, den Stein beim Zurückrollen in das Tal zu beobachten. Es bleibt trotz aller Verzweiflung eine letzte, große Freiheit. Mit dem Schicksal Schabernack zu treiben. Dazu muss der Mensch den Suchtcharakter der gewohnten Verhaltens- und Denkweisen der etablierten Glücksökonomie und der digitalen Gewinnmaximierungscodes knacken. Dann aber erwartet Sisyphos ein goldenes Zeitalter.

In diesem Zusammenhang ist auch die Geschichte von Cassandra von Interesse. Sie hat etwas von einem weiblichen Sisyphos. Der Gott Apollon verliebte sich in sie und gab ihr wegen ihrer Schönheit die Gabe der Weissagung. Als sie jedoch seine Verführungsversuche zurückwies, wendete sich seine Liebe ins Gegenteil. Er sprach den Fluch aus, dass niemand ihren Weissagungen Glauben schenken dürfe. Seither steht sie symbolisch für all die Unheilswarner, die kein Gehör finden (Kassandraruf). Im trojanischen Krieg rief sie vergeblich dazu auf, Paris zu töten, da sie vorhersah, dass er Troja großes Unheil bringen würde, und auch vor der List mit dem Trojanischen Pferd warnte sie. So wurde Troja von den Griechen erobert und sie vergewaltigt. Agamemnon nahm sie als Sklavin mit nach Mykene und wurde dafür von seiner Frau ermordet. Auch dies hatte Kassandra vorausgesehen, aber was nützt es, wenn die Wahrheit systemimmanent ist und sie Teil desselben Systems ist, das sie kritisiert.

Erst durch Perspektivwechsel können wir die Auswegslosigkeit einer Lage begreifen. Das ist eine therapeutische Weisheit. Die Mythen waren ja so etwas wie der Vorläufer moderner Psychotherapie. Sie zeigen die Absurdität manch menschlichen Handelns auf, sein eitles Streben nach vergänglichen Freuden und die verzweifelte Suche nach der wirklichen Bestimmung. Es ist immer wieder der Zufall, der uns auf unseren Weg führt. Irgendwann kann Sisyphos den Stein einfach rollen lassen, kann Cassandra das Unglück, das sie voraussagt auch selbst auf sich beziehen, kann Chiron seine Wunde vergessen. Dazu müssen wir die Angst von Auseinandersetzung und Vereinsamung überwinden und uns als fehlbare Menschen zeigen. In der Öffnung der Seele liegt Heilungspotential. Wenn wir erkennen, dass wir nicht perfekt sein sollen, sondern authentisch. Und anderen dieselben Fehler zugestatten, die wir bei uns ebenfalls erkannt haben. 

Bücher über Chiron:

‘Chiron, Heiler und Botschafter des Kosmos’ von Melanie Reinhart

‘Chiron’ von Barbara Hand Clow

‚Chiron‘ von Zane B. Stein

‚Die Chiron-Fibel‘ von Verena Bachmann


[1] Dort befindet sich auch der Dreifachstern Alpha Centauri –  der sonnennächste Stern.

[2] Gelingende Verbindungen von Mars und Chiron finden wir etwa in der Sportpädagogik, Polizeipsychologie, im Bereich der Sicherheitsberatung oder in der Evaluation von Marketingstrategien und Werbung.

[3] Das Trigon von Chiron und Venus kann aber auch schwach machen, insbesondere wenn kein starker Mars vorhanden ist.