Das System und der Dritte
Über die Kybernetik sozialer Regelkreise und die Funktion von Drittrollen in der sozialen Arbeit.
Kapitel 1 – Einleitung
Soziale Arbeit lebt von der kritischen Auseinandersetzung des Menschen mit dem gesellschaftlichen System. Doch Kritik ist schwerer geworden, weil der Adressat Mensch als lokaler, selbstverantwortlicher Akteur mehr und mehr in den Hintergrund tritt und global gesteuerten Handlungsabläufen unterliegt. Die Unterordnung an das System fällt nicht mehr so leicht, weil die Überlegenheit künstlicher Intelligenz eine narzisstische Kränkung provoziert, und gleichzeitig die Ziele des Humanismus in Frage stellt – oder zumindest das, was wir bisher als den Kern westlicher Existenz glauben, begriffen zu haben. Dieses Buch kann dafür keine Lösungen präsentieren.
Heilsam ist der soziale Zusammenhalt, der im Einzelnen Fähigkeiten hervorbringt, die dieser selbst noch gar nicht an sich bemerkt hat und das Spielen alternativer Rollen erlaubt. Kooperation entsteht mit der Bereitschaft, sich in die Probleme des Miteinanders und spezieller Dreiecksdynamiken hineinzudenken. Die Suche nach Bewahrung sozialer Gerechtigkeit innerhalb stark stratifizierter Gesellschaften hat eine lange Geschichte, die in Sparta, bei Konfuzius, bei Sokrates, im Buddhismus, in Platons Akademie und Aristoteles Ethik ihren Ausgangspunkt nahm. Im Kern geht es um die Erziehung zur Freiheit und außerhalb von Stammesgesellschaften, die in enger Verbindung mit der Natur leben, vor allem um die Überwindung der animalischen Instinkte, die in unserer biologischen Determiniertheit von körperlichen Reflexen Krieg und Verwüstung dann bescheren, wenn wir nicht mehr zurück auf ‚die Ebene des Mitmenschen‘ gelangen.
Der Mensch opfert darum spontane Befriedigung und Freiheit, um in systematisierten Abläufen von Unternehmen, Gewerkschaften, Parteien, Genossenschaften, Stiftungen, in sozialen Netzwerken oder in Vereinen Stabilität zu schaffen, und dem Umgang miteinander durch funktionierende Institutionen des Rechts, der Wirtschaft, der Politik usw. eine Struktur zu geben. Doch bilden sich in derart statusbehafteten Konstrukten auch in einer friedlichen und kommunikationsverbundenen Weltgesellschaft Beziehungen mit Ungleichgewicht aus, die zu unauflösbaren Abhängigkeitsverhältnissen führen können.
‚Die Würde des Menschen ist unantastbar‘, lautet der 1. Artikel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Sie zu schützen ist auch in der digitalisierten Postmoderne das erste Ziel jeglicher sozialer und politischer Betätigung. Doch bisher ist eine Art Rezept für Ungerechtigkeit im ‚postfaktischen Zeitalter‘ auch im Mutterland der Sozialgesetzgebungen nicht gefunden und Wege der ‚globalen Kooperation‘ noch in weiter Ferne.1 Die Komplexität der Gesellschaft verlangt auch in der Zukunft trotz Bits und Bytes nach vielfältigen Lösungsmustern.
In Stammesgesellschaften müssen Gefühle nicht unterdrückt und auch keine Analysen des sozialen Brauchtums vorgenommen werden, da alle fast dieselben Erfahrungen bezüglich gemeinsamer Ereignisse machen. Die mündliche Überlieferung liefert ausreichende Informationen über die Sozialstruktur, die nicht weiter hinterfragt zu werden braucht, da nur selten außerhalb dieser etwas passiert und Instinkthandlungen meist sofort sanktioniert werden. Verallgemeinernde Lösungen sind selten gefragt und so entstehen auch keine komplexen Theorien über das Leben und die Natur.2
Viele indigene Völker wollen sprichwörtlich nicht weiter als bis Drei zählen, weil das Viele innerhalb der Tauschordnung automatisch ineinander aufgeht und unerwünschte Berechenbarkeit erzeugt. Sprache ist dem Ursprung nach zunächst das Medium sozialer Interaktion und Abstimmung und nicht das Instrument der Analyse der Verhältnisse (Hallpike 1986). Mit der Entstehung von Stadtstaaten und Zivilisationen benötigte es aber übergeordneter Regelwerke des Rechts, des Handels und der politischen Struktur. Die aus der Antike und dem Judentum inspirierten Buchreligionen des Christentums, des Buddhismus und des Islams3 lehren gleichermaßen, dass wir uns von ‚niederen Instinkten‘ freimachen sollten, und die daraus gewonnene Freiheit dazu nützen, den anderen, der dies noch nicht kann, zu unterstützen, und so gemeinsam Selbstbewusstsein für ein friedliches und achtsames Miteinander zu sammeln.4
Doch je enger die Bindung an eine Primärgruppe, desto grober ist das Verhalten gegenüber Außenstehenden (moralischer Dualismus). Der Zwang zur Einordnung in abstrakte Strukturen der Zivilisation führt regelmäßig zu einer diffusen Abwehrreaktionen gegenüber vermeintlich Andersdenkenden, denen eine mangelnde Kenntnis der Werte vorgeworfen wird. Der größte Feind der Gesellschaft erwächst nicht aus dem Äußeren, wie Karl Popper zeigte, sondern aus dem inneren Zerwürfnis über Wertvorstellungen.5 Die Kommunikation über gemeinsame Ideale laufen auf einer sprachlich subtilen Ebene ab, die die Denkkategorien der jeweiligen political correctness und des common sense (zu Deutsch Gemeinsinn) hinterfragen und somit zunächst Dissonanz erzeugen. Das Gehirn sucht inmitten der wechselnden Anschauungen und Glaubenssysteme aber nach Kohärenz und Gleichschwingung. Deshalb folgen Menschen Trends. Sie fühlen sich paradoxerweise wohl, ähnliche Stimmungen zu genießen, auch wenn diese destruktiv anmuten.6 Dauerhafter Dissens mindert allerdings die Entwicklungsfähigkeit und führt zu unkritischem Verhalten. So muss jeder Einzelne in sich die Widersprüche seiner jeweiligen Kultur vereinigen lernen.
Moderate Konflikte können von Zeit zu Zeit hilfreich sein, sich der eigenen Positionen bewusst zu werden. Ohne dass gleich eine Erwartung an ‚emotionale Perfektheit‘ gestellt wird, können außerhalb der institutionalisierten Beziehungen konträre Meinungen ausgetauscht werden. Souveränität und Selbstbestimmung werden durch ‚unverfängliche‘ Drittrollen ermöglicht, die außerhalb genormten Statusgehabes zeitweiligen Kontakt ‚auf Augenhöhe‘ bieten und Konflikte gewissermaßen ‚auf legalen Ebenen kanalisieren‘. Um deren ‚soziale Regelkreise‘ geht es in diesem Buch.
In der Alltagskommunikation finden sich symbolische Ebenen, deren Schlüsselbegriffe in subtiler Manier auf die unweigerliche Asymmetrie funktionaler Beziehungen und das damit verbundene soziale Ungleichgewicht abzielen. Egalitäre Sprech-Variationen organisieren sich auf einer Anordnung von sechs Rollenebenen: Innerhalb von Geschlechtern, in Primär-Gruppen von ca. 6-20 Personen, in typischen Milieus und Schichten, in speziellen Diskursen, in alternativen Autoritätsverhältnissen und in dem, was wir als Medien bezeichnen. Auf allen sechs Sprachebenen treten typische ‚Figuren des Dritten‘ auf.7 Nur beide Kommunikationsarten zusammen, die institutionalisierten und die Drittrollenebenen, gewähren auf Dauer konstruktiven Zusammenhalt und Stabilität der Gesellschaft. Wo die Möglichkeit gegeben ist, die Struktur der ‚Machtdiskurse‘ im Foucault‘schen Sinne zu unterlaufen, zu dekonstruieren, und ihre manipulative Versuchung so zeitgleich mit ihrer Ausübung mit zu reflektieren, kann auch immer ein anderes Verhältnis als das eines gehorsamsergebenen zwischen zwei Menschen etabliert werden.
Soziale Kompetenz, für die der Mut zur kritischen Denkart nötig ist, bündelt sich in den ‚Figuren des Dritten‘, die schon in den Mysterienspielen und Theaterstücken der Antike eine große Rolle spielen. Wer sich das Spielen der merkwürdigen Gestalten des Tricksters, Sündenbocks, Cyborgs, Tertius gaudens, Homo oeconomicus oder Advocatus Diaboli zutraut, kann seine Ressourcen besser einsetzen, und hat ein effektives Mittel gegen künstliche Rhetorik, gefällige Herabsetzung und verbale Übergriffigkeit. Denn Respekt gewinnt der, der den anderen zeigt, die ‚andere Seite der Medaille‘ zu kennen und in der Lage ist, Mechanismen der Abwertung und Ausgrenzung in der direkten Situation spontan entgegenwirken zu können.8 Seit der Mensch Institutionen nutzt, ist seine größte Angst die vor dem ‚entfremdeten Menschen‘ und davor, Kontrollfunktionen ausgeliefert zu sein, die er selbst nicht mehr beeinflussen kann.
Für die Ausbildung eines sozialen ‚Schutzmantels‘ ist allerdings ein ‚Umweg‘ über andere nötig, die bereit sind, sich ebenfalls für den Abbau unnötiger Handlungsschranken zu engagieren, die mit der funktionalen Ausdifferenzierung von Lebensbereichen entstehen.9 Die mit einer gesellschaftskritischen Haltung verbundenen Sprachspiele sind eng mit den Mythen der Kunst, Literatur und des Theaterspiels einer Kultur verknüpft. Sie markieren den ‚sozialengagierten Anteil‘ außerhalb der Bedingtheit der Luhmann’schen Systeme der
Wirtschaft, des Rechts, der Politik usw. Besonders die ‚Figur des Dritten‘ hat eine befreiende Rolle bei Konflikten, weil ihre Metaphorik in der systemischen und narrativen Arbeit aus der diskursiven Struktur der ‚offiziellen‘ Kommunikationsstrukturen ausbrechen kann. Und damit eine Möglichkeit bietet, im Ansatz (auch in sich selbst) das zu heilen, wovor wir Angst haben und worüber wir so schwer sprechen können: Die Auflösung der sozialen Ordnung, Verrohung und Beliebigkeit der Herrschaft einer rein technokratischen Gesellschaft, in der der Mensch nur noch Erfüllungsgehilfe für Normungs-Ziele ist.10 Die Fähigkeit zu vernünftigen Entschlüssen, die mit Kant einem ‚allgemeinen Imperativ‘ gerecht werden sollten, der uns zur Freiheit zu befähigt, erwächst mit der ‚Abarbeitung‘ an sozialkritischen Themen.11
Die Grundfragen der Sozialisation lauten im Allgemeinen: Wie werden Individuen zu Gesellschaftsmitgliedern? Warum unterwirft sich der Mensch Normen, die seine persönlichen Bedürfnisse einschränken? Und wie gelingt es der Gesellschaft ihre Regeln, die das soziale Handeln bestimmen, an die Nachwachsenden zu vermitteln? Das Ziel der Erziehung war schon für Plato die Herausbildung des ‚edlen (sozialen) Wesens‘ in uns. Nach Durkheim ist ein sozialer Tatbestand jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen ein äußeres Beispiel auszuüben. Sie besitzt ein von den individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben. Erwartet werden von uns ab einem bestimmten Alter selbstständige Entscheidungen, die die vereinbarten Regeln aktiv auslegen und anzeigen, dass man in der Lage ist, die dahinter stehende Werte und Bedeutungen der Zivilgesellschaft zu verstehen.12
Ein Beispiel sei die Auszeit vom Beruf für Männer, wenn ein Kind kommt. Lange Zeit war dies undenkbar. Die Erkenntnis setzte sich zunächst in einzelnen Bevölkerungsschichten durch, bis sie zu einer allgemein als wertvoll erkannten Norm wurde. Es dauert eine Weile, bis die neue Verhaltensformen verinnerlicht waren und auch in ‚Randmilieus‘ umgesetzt worden. Meist verlaufen solche Entwicklungen aus der bürgerlichen Mitte heraus zu den unteren und oberen Schichten der Gesellschaft. Jeder Einzelne muss für sich die Entwicklungsschritte durchlaufen, die zur letztendlichen Überzeugung des Sinns der neuen Verhaltens führen, bis es schließlich in Form einer unausgesprochenen Norm existiert (oder auch nicht). Denn von oben anweisen lassen sich diese Dinge ohne Einsicht nicht.
Der ‚Tausch‘ zwischen Frau und Mann findet in jeder einzelnen Beziehung seine Realisierung, bis er zu einer gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit wird. und von jedem auf spezifische Weise durchlaufen wird. Kaufmann stellte seine grundsätzliche Dichotomie von Geben und Nehmen bei jungen Menschen, die gemeinsam einen Haushalt aufbauen, fest. „Der Gebende handelt im Allgemeinen, ohne darüber nachzudenken, vor allem wer von erworbenen Gewohnheiten getragen wird. Bisweilen tut er dies mit der Vorstellung einer späteren Kompensation (soweit er sich als Schuldner fühlt) oder aber in der Hoffnung auf eine Gegengabe (wenn er sich als Gläubiger betrachtet). Dies scheint die häufigste Kombination von Selbsthingabe und Schuldenrechnung zu sein. Ausgangspunkt ist also selten der Versuch einer strikten Aufrechnung, welche sich am Gleichheitsprinzip orientiert“ (Kaufmann 2005: 162).
In diesem Buch geht es allerdings weniger um die materiellen Konsequenzen von Tausch und Gabe, wie sie auch von Mauss (1968) beschrieben wurden, sondern um die kommunikativen Ebenen, die dazu geeignet sind, eine Gleichwertigkeit zwischen Menschen in Institutionen herzustellen. Der Soziologe Simmel fand auf dem Höhepunkt der Industrialisierung eine Ausbildung der Individualität mit wachsender Entwicklung und Differenzierung der Gesellschaft, da sich der Mensch mit der Organisation supranationaler Strukturen auch an diejenigen annähert, die außerhalb seiner direkten Einflusssphäre stehen. Je geringer die Bindekraft der Dorfgemeinschaft, desto höher der Entwicklungsgrad sozialer Verflechtungen. Wir können uns persönlich besser weiterformen, je komplexer die Umgebung ist. Simmel sah darin ein universelles Gesetz der Spezialisierung. Die Differenzierung sei ein evolutionärer Vorteil, jedes Wesen ist in dem Maße vollkommener, in dem es den gleichen Zweck mit einem kleineren Kraftquantum erreicht, auch wenn dadurch Abhängigkeiten entstehen (Simmel 1890). Gleichzeitig betonte er aber auch die Wichtigkeit triadischer und nichtinstitutionalisierter Kommunikation, wie er sie in jedem Konflikt am Wirken sah.13
Er merkte an, dass nur selten eine explizite Unterscheidung zwischen hierarchischen und ausgleichsorientierten Rollenebenen getroffen wird und suchte nach einer Lösung, den Spalt zwischen typisch dyadisch und typisch triadisch operierenden Rollentypen zu schließen. Ich habe ein Modell von sechs ‚sozialen Regelkreisen‘ entwickelt, die sich an Simmels Konfliktdynamiken, an Parsons ‚pattern variables‘ (Verhaltenstypus), den Big Five (Persönlichkeitstypus) und ausgewählten ‚Figuren des Dritten’ (Triggertypus) orientieren.14
Sie sollen ein Konzept liefern für das, was ‚zwischen Dienst und Freiheit‘ nicht als Kommunikationsformel definierbar ist, weil es mit der Situation gewissermaßen als Universalidee, die nach individueller Anwendung sucht, entstehen und vergehen soll.15 Statusorientierte Beziehungen sind in ausdifferenzierten Gesellschaften die Norm und garantieren strukturierte Verhältnisse. Die darin produzierte Asymmetrie und der Verlust von Menschlichkeit verlangt jedoch alternative Rollenebenen (markiert durch entsprechende Metaphern, Anekdoten und Witze), um authentische Begegnung und damit wirklich dauerhafte Stabilität des Zwischenmenschlichen zu ermöglichen, in der die Würde auch in Abhängigkeitsverhältnissen gewahrt bleibt.16
Auch Emmanuel Lévinas, der bei Husserl und Heidegger studierte, sah kein autonomes Subjekt per se. Dieses wird für ihn erst in der sozialen Interaktion durch eine vorausliegende Verpflichtung und den unbedingten Anspruch eines anderen Individuums an die gemeinsame zu erreichende Freiheit konstruiert. Niemand kann vollständig allen Situationen gerecht werden, die sich aus dem Sozialen ergeben und kann somit ruhigen Gewissens jedem anderen ermöglichen, ihn zu korrigieren, wenn dadurch nicht die Grundstruktur gefährdet wird. Allerdings kann er dies nicht im ‚offiziellen Gebrauch‘ der Institutionen, in dem er nicht juridisch abgesichert ist, tun. Er kann es nur ‚durch die Blume‘ sagen und hoffen, dass die anderen ‚in derselben Metaphorik zuhause sind‘, so dass sie den Impetus von Späßen, Mysterien, Anspielungen, Anzüglichkeiten, Bonmots usw. richtig auffassen.17
Es gibt für Lévinas prinzipiell nicht die Möglichkeit, eine Einlösung dieses Anspruchs einzufordern; gerade weil dem Akteur die praktische Notwendigkeit gegenübersteht, diesem unterworfen zu sein. Durch die Inanspruchnahme der Anderen ist der Unterworfene grundsätzlich nicht vertretbar. Aber indem wir zu unserem Verpflichtetsein persönlich stehen, werden wir zum Subjekt und können sodann den Raum zur eigenverantwortlichen Interpretation bekommen. Ob Gott oder ein ‚Höhergestellter‘: „Zu ihm hingehen heißt nicht, dieser Spur, die kein Zeichen ist, folgen, sondern auf die Andern zugehen, die sich in der Spur halten“ (Levinas 1983: 235).
Wir werden in dem Moment zur unverwechselbaren Persönlichkeit, wo wir eine konkrete Forderung an jemand stellen, der in der Hierarchie über oder unter uns steht, weil wir damit an die Gesellschaft signalisieren, die Verantwortung für die Konsequenzen zu tragen.18 Ansonsten bleiben wir ein abstrakter Gefangener der ‚allgemeinen‘ Sichtweise, des Common Sense bzw. des Heideggerschen ‚Geredes‘. Anders als Buber spricht Lévinas von einer uneinholbaren, sich auch trotz aller weiteren Vermittlungsversuche, ausweitenden Asymmetrie zum Anderen. Entlastung bringen die einbezogenen Dritten, die die Tür zu einer gerechteren ‚anderen Welt‘ offenhalten.
„Menschen leben in Gemeinschaft, sind sozial; ohne andere Menschen können wir nicht sein. Sie bestätigen uns, lassen uns erfahren, wer wir sind und wie wertvoll wir sind. Isolation und extreme Einsamkeit sowie das Verlorensein eines Menschen inmitten einer Menschenmasse sind Fehlformen der Sozialität. Zu große Nähe, die die Intimsphäre nicht berücksichtigt, ist ebenso bedrohlich, wie eine Gemeinschaft, in der der Mensch nicht er selbst sein darf. (…) Menschen sind frei und verantwortlich in ihrem Handeln. Weil wir frei sind, sind wir auch verantwortlich für das, was wir tun – das nennen wir Moralität. Ein Trauma, so sahen wir bereits, zerstört die Freiheit: Wenn jemand ins Ich eindringt, ist die Freiheit dahin. Man kann den eigenen freien Willen nicht mehr einsetzen und verliert dadurch die Selbstbestimmtheit. Wird die Freiheit unterbunden, so geht auch die Verantwortungsfähigkeit verloren. Einem Menschen kann aber auch die Verantwortung abgesprochen werden, indem er als unmündig behandelt wird, obwohl er mündig ist“ (Wulf 2014: 73).
Wir können unsere Freiheit dazu nützen, den Gerechtigkeits-Spalt, der durch unser Mitmachen in den Positionen des jeweiligen Gesellschafts-Systems entsteht, durch vielfältige andere Beziehungsebenen zu überbrücken.19 Aber wir können dafür keine Erwartung von ‚Gleichwertigkeit‘ an die Beziehung ableiten. Wie das Bundesamt für Arbeit die Arbeitslosen zählt, und warum darin nur ein Teil der Hilfsempfänger ausgewiesen werden, ist beispielsweise ‚eine Wissenschaft für sich‘.20
Weder, die ‚drin‘ sind, noch die, die ‚draußen‘ sind, haben einen Einfluss auf die Systematik der Arbeitsabläufe. Sie können allenfalls jahrzehntelang ablaufende Prozesse irritieren und im Einzelfall Ausnahmen initiieren. Die Asymmetrie breitet sich aus, sobald eine aktive Bemühung von Dritten um zusätzliche Ebenen, die das ‚hierarchische Gehabe‘ untergraben, unterbleibt.
Wer System sagt, muss auch sagen: ‚Alles, was notwendig ist, Auswege zu schaffen‘. Denn in diesen Lücken kann die ‚Figur des Dritten‘ eintreten. Sie kann als Außenstehender das entstehende Ungleichgewicht beobachten, aufzeigen, irritieren und ausgleichen helfen. Es gibt einen kreativen Spielraum, der sich darin öffnet, die Antworten auf den Apell, die Beziehungsbotschaft, die Sachlage, die der andere an mich richtet, jeweils als unabhängiger Dritter, der vorübergehend in das Geschehen integriert ist, neu erfinden zu dürfen und die Hierarchien für eine Zeit unsichtbar zu machen (Levinas 1947). Diesen Spielraum können wir dann nützen, wenn wir die ‚Sprache des Sozialen‘ in allen ihren Abgründen (der jeweiligen Landessprachen und ihrer Dialekte) beherrschen gelernt haben, so dass jeder im Notfall jedem ein Dritter sein kann, und die zahlreichen Facetten aus derartigen Sprachspielen versteht und in der Gemeinschaft zum Wohle aller anwendet.
Das komplementäre Verhältnis, das in den Institutionen ‚entworfen‘ wird, ist niemals eine monokausale Beziehung, sondern mindestens eine doppelschichtige, da auf das Rollenpaar weitere soziale Dimensionen einwirken. Beispielsweise gibt es noch andere Klienten, die bei demselben Arbeitsberater sind, dieser hat Kollegen, die wir auch schon kennen, und die wiederum Klienten mit ähnlichen Dispositionen wie wir selbst haben usw. Um jedem dieser Akteure situationsgerecht und angemessen begegnen zu können, braucht es außerhalb der reinen Begegnungsebene von Arbeitsberater/Klient weitere allgemeinere Rollenebenen, die andere Akteure mit hinzunehmen, die Asymmetrie entzerren, und dauerhafte Entwicklung der Beziehung ermöglichen. Solange eine Durchlässigkeit gewahrt ist, aus der sich dyadische Beziehungen in mehrschichtige verwandeln können, können weitere Dimensionen des sozialen Zusammenlebens etabliert werden. Derartige ‚niedrigschwellige‘ Angebote sind allerdings ständiger Veränderung unterworfen, da sie immer in der Versuchung sind, selbst zum System zu werden und selber Grenzen zu errichten.
In der indischen Mythologie heißt es: Es gab einmal einen mächtigen Höllendämon, der alle Welten beherrschen wollte. Er zog los mit einem gigantischen Heer von finsteren Monstern und es gelang ihnen, Stufe um Stufe bis in die Himmelsphären vorzudringen. Die Götter waren machtlos. Sie flohen schließlich sogar aus dem Palast von Vishnu, dem Erhalter der Schöpfung. So blieb dieser in seinem Plast alleine zurück, um sich der teuflischen Übermacht zu stellen. Die Dämonen stürmten den Palast, aber sie konnten Vishnu nirgendwo finden.
Der Dämonenkönig setzte sich auf Vishnus Thron, doch er konnte keine Siegesgewissheit in sich spüren. Ganz im Gegenteil, je mehr ihm bewusst wurde, dass Vishnu nicht aufzufinden war, desto mehr verlor er seine dämonische Kraft. Er fühlte sich schließlich geschlagen und zog gesenkten Hauptes mit seinem Heer zurück in die dunklen Höllenwelten. Die Götter kehrten erstaunt und erfreut in Vishnus Palast zurück und wollten wissen, wo dieser sich versteckt hatte und wie er dem Dämon alle Macht raubte. Vishnu kam hervor, sprach: „Ich habe mich ins Herz des Dämons begeben. Dort konnte er mich nicht sehen, weil er dort niemals hinschaut. Und im Stellen und Geheimen habe ich ihn dabei an die göttliche Natur in seinem Herzen erinnert. Dadurch hat er sein seine dämonische Macht weitgehend verloren und sich dem Göttlichen sin sich selbst geschlagen geben.“21
Das Spielen von sozialen Rollen ist nicht nur innerhalb der gesellschaftlich definierten Strukturen, sondern auch an unsichtbaren, ja gar phantastischen Orten möglich. Freiheit bedeutet nicht, sich den sozialen Zwängen zu entziehen, sondern das Selbstbewusstsein zu einem Sozialverhalten zu entwickeln, das trickreiche Drittrollen erfindet, die ANDERE in die Freiheit bringen. Von der Norm abweichende Rollen zu spielen erfordert Mut, erlaubt aber, verhärtete Strukturen aufzuweichen und erstarrten Komplementärrollen Alternativen zu eröffnen und ihre gegenseitige Verschränkung zu durchbrechen, ohne die Struktur zu destabilisieren. Daraus entstehen interessante Begebenheiten, die das Salz in der ‚sozialen Suppe‘ sind. Unvermeidbares an Rollen gebundenes Verhalten in Institutionen wird so zu einem Experimentierfeld, das weiteren Personen erlaubt, sich einzumischen und zu ‚verwirklichen‘.22 Nicht der höhere Rang gewährt dann mehr Freiheit, sondern das spontanere Agieren und das kreativere Rollenset, das statusfördernd und mittelbar auf verschiedene Ebenen der Begegnung gleichzeitig einwirkt und diese stabilisiert, weil Gehorsam und Kritik in der Waage gehalten werden.
Je größer die Gesellschaft wird, desto ausdifferenzierter sind ihre Hierarchien und abstrakter die Regeln. Es gibt für jeden mehr Möglichkeiten, doch ist Gefahr des ‚Kippens‘ der Einzelteile in extreme Gesellschaftsformen auch größer. Gesellschaft ist das, was in der Bewältigung von Asymmetrie passiert. Sie ‚geschieht‘ im Akt der Solidarität und Empathie. In allen Institutionen finden sich fein abgestufte Hierarchien, die die Kommunikation ‚von oben bis unten‘ steuern. Um authentisches und spontanes Verhalten auch unter ‚Ungleichen‘ betreiben zu können, hat sich der Mensch auch auf symbolischen ‚Zwischen-Ebenen‘ organisiert, die wechselseitige Beziehungsstrukturen und neue Rollenkreationen zulassen. So kann jemand durchaus auch für seinen Vorgesetzten eine Autorität auf anderem Gebiet sein, für seinen Coach ein vertrauensvoller Freund oder für seinen Priester eine gleichwertige Inspiration des Glaubens.23 Institutionen haben den Zweck, dauerhafte und verlässliche Strukturen zu schaffen und Führungspersönlichkeiten hervorzubringen. Die dazugehörigen Positionen sollen aber in einer Demokratie ersetzbar sein, damit sie die Ziele der Institutionen nicht durch persönliche Motive gefährden.
Die Asymmetrie unserer ‚alltäglichen Statusspiele‘ ist nicht die von Coleman beschriebene zwischen natürlichen Personen und korporativen Zusammenschlüssen, wie Firmen, Vereine, Gewerkschaften, Stiftungen, Parteien usw. (Coleman 1986). Hier ein Ungleichgewicht zu konstatieren wäre trivial. Korporationen können nicht mit ihren Einzelteilen verglichen werden, so wie eine einzelne Zahl nicht mit der Gesamtmenge aller Zahlen vergleichbar ist. Die 5 ist im Verhältnis zum Ganzen dasselbe wie die 12 – nur eine Zahl. Erst das Setzen in ein gegenseitiges Verhältnis bringt eine Differenz hervor. Es ist mit Schütz und später Berger und Luckmann so, dass sich die Asymmetrie, die durch die hierarchische Ordnung der Korporationen entsteht, im Rollenspiel der Akteure wiederspiegelt. Eine Firma kann kein Akteur sein; agieren im Sinne eines bewussten Handelns können nur die dazu Befugten, denen die juridische Verantwortung übertragen ist.24 Der Chef verhält sich jedoch zu seinen Angestellten, wie die Führungsetage einer Firma zu der Angestelltenvertretung.25
Die gegenseitige Kontrolle funktioniert umso besser, als parallele Rollenspiele, Geselligkeitskultur und Rituale bestehen, die den sozialen Zusammenhalt unter Ungleichen befördern. Historisch hat sich die Gesellschaft immer weiter vom ‚natürlichen‘, allein verantwortlichen Akteur, der mit den anderen in persönlichen Kontakt stand, zu einer Struktur entwickelt, in der die Handelnden weitestgehend ersetzbar sind.26 Im 13. Jahrhundert formten sich die ersten Zusammenschlüsse von Kaufmannsgilden, die nicht mehr der päpstlichen Ordnung unterlagen. Sie errichteten eigene Handelsgesetze und andere Berufe, wie etwa das Handwerk, folgten ihnen. Universitäten bekamen mehrere tausend Mitglieder und schufen ihren eigenen Ehrencodex. So differenzierte sich eine immer größere Mittelschicht von Personen aus, die nicht nur durch ihren Status ‚volle Personen‘ nach dem Recht waren, sondern auch durch ihre fachlichen Leistungen, ihr soziales Engagement oder gar durch einen zufälligen Glücksspielgewinn.
Die Rollen innerhalb der Institutionen der entstehenden Nationalstaaten und grenzübergreifenden Handelskonzerne färbten auf den Alltag ab und beeinflussten das dörfliche Miteinander.27 Je größer diese Dörfer wurden, und je geringer der ‚Kitt‘ des primären Sozialverbandes wirkte, desto mehr eigene Institutionen bildeten die Städte aus, und mit ihnen entsprechende Rollen, an deren Habituserwartungen sich ihre Inhaber langsam gewöhnten (Elias 1997). Daraus erwuchs ein gewisses Recht auf allgemeine Teilhabe, das schließlich im Rousseau‘schen Gesellschaftsvertrag zusammengefasst ausgedrückt ist. Aus diesem hervorgehend hat seitdem jeder Mensch einen Anspruch auf Mitwirkung an Entscheidungs-Institutionen.28 Er weiß aber auch, dass er unter dem Einfluss dieser Korporationen anders handeln wird, als ohne sie. Somit wird er immer nur so viel Staat zustimmen, wie er für notwendig befindet.29 Locke konkretisierte diesen Anspruch aus der Kenntnis der Funktionsweise auf Verfahrensfragen, die seitdem die Sozialökonomie beschäftigen. Wie ist dieser Anspruch auf Teilhabe einzulösen, wenn diese Institutionen doch alle nach Optimierung und Ausgrenzung streben und somit dyadische und streng hierarchische Verhältnisse bevorzugen?
Diese Frage kann nicht nur eine politische, unternehmerische oder juristische sein. Sie ist vor allem auch eine soziale Frage. Denn die Beziehungen in Institutionen sind immer asymmetrisch und damit a-sozial – wenn man Sozialität mit Streben nach Egalität und sozialer Gerechtigkeit gleichsetzen will. Es braucht zusätzliche Rollenebenen, die nicht dem Anspruch des Systems unterworfen sind. In ihnen spielen Figuren des Dritten‘ eine große Rolle, und um deren spezielle ‚tertiäre Kommunikationen‘ geht es in diesem Buch.30 Es entstand aus einer dreißigjährigen Beschäftigung mit Astrologie und der Suche nach einer wissenschaftlichen Grundlage für dieses Fach, das tief auch in unserer heutigen Kultur verwurzelt ist. Über Jahrhunderte hinweg bestand das Studium an den Universitäten aus dem Trivium von Grammatik, Rhetorik und Dialektik, sowie dem Quadrivium von Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie, wobei unter letzterer vor allem astrologische Überlegungen über die Stellung des Individuums in der Gesellschaft angestellt worden (Paulus 2005: 51).
Mir ging es vor allem um die Findung brauchbarer Kategorien, die eine einheitliche Arbeitsweise innerhalb der Sozialwissenschaften möglich machen.31 Denn solange jeder Astrologe sein eigenes System benutzt, ist eine wissenschaftliche Auswertung und die Bildung von allgemeinen Theorien schwierig. Dieses Buch beinhaltet einen ersten Überblick dieser Überlegungen. Da ich weder richtig studiert habe (nur vier Semester Psychologie), noch sich ein Austausch mit Sozialwissenschaftlern ergeben hat, erscheint manche Formulierung sicherlich holprig. Es ist nicht leicht, sich in den vielen Pfaden der Soziologie zurechtzufinden, von denen einige auf sich selbst zurückführen und manche in einer Sackgasse landen. Nachdem man aber einmal einen Faden gefunden hat, ist es eine Beschäftigung, die keinen Bereich des Menschseins offen lässt.
Andreas Bleeck, April 2018
1 Es drohen viele von den Errungenschaften der Digitalisierung abgehängt zu werden. Ca. 8oo.ooo Menschen haben zurzeit keinen festen Wohnsitz in Deutschland, einem Fünftel droht die Altersarmut und jedes sechste Kind wächst in prekären Verhältnissen auf. Es sind kaum Ansätze in Sicht, wie die Spaltung aufgefangen werden kann. Das liegt wohl auch daran, dass wir vor eine vollkommen neue Herausforderung gestellt werden, für die erst eigene Lösungswege entwickelt werden müssen.
2 Luhmann stellt fest, dass um das Jahr 1800 herum die Natur einen anderen Gegensatz verordnet bekam. Wo vorher das Heilige als Kontrahent der animalischen Triebe gesetzt wurde, trat Natur im Weiteren nun als Gegensatz von Zivilisation auf (Luhmann 1988: 13).
3 Der Hinduismus nimmt darin eine Sonderstellung ein, weil er die vedischen Schriften nicht kanonisiert hat und keine zentralen Dogmen errichtet hat. Sogenannte neohinduistische Gruppierungen richten sich aber auch an einer ‚Erlöserfigur‘ (meist Krishna) aus, die dem Menschen durch Verzicht und Übernahme von Schuld zur Befreiung verhilft.
4 Handlungen, die wiederum auf uns selbst zurückwirken und so mit der Zeit zu unserer Individualisierung beitragen, aus der heraus erst gemeinsame Wertvorstellungen kultiviert werden können. Denn die Utopisten und Ideologen, die links wie rechts die Freiheit im Banner tragen und mit Gewalt durchsetzen wollen, streben selten die Befreiung des Menschen an, sondern eher die Befriedigung ihrer Rachegelüste aufgrund vermeintlicher Benachteiligung.
5 Der größte Feind der ‚offenen Gesellschaft‘, wie er sie nannte, ist auch für Popper ihre eigene Ignoranz und Blindheit gegenüber fremdenfeindlichen Verhaltensweisen, die in Rigidität und Überkontrolle münden und schließlich die eigene Ordnung bedrohen (Popper 1992). Ein Staat sollte sich grundsätzlich pluralistisch in einem fortwährenden Prozess von Verbesserungsversuchen und Irrtumskorrekturen fortentwickeln und offen für Veränderungen bleiben, wenn er sich selbst in seine Einzelteile zerlegen will.
6 Dauerhafte Inkongruenz erzeugt Stress und deshalb ist eine innere Zerrissenheit wie zur Zeit der Reformation oder momentan in der arabischen Welt viel gefährlicher für die Stabilität als eine Bedrohung von außen. Dauerhafter Stress hemmt die Entwicklung, befördert Krankheiten und führt zur sozialen Verwahrlosung.
7 In solchen Drittrollen eine Struktur finden zu wollen ist wie einen Aal festhalten zu wollen. Er glitscht aus den Händen, sobald man glaubt, ihn zu haben. Doch kann man dauerhaft nur über Dinge reden, die einer Logik folgen. Die Soziologie selbst hat eine solche Drittrolle inne und sucht ständig nach Modellen, mit denen sie zwischen Natur- und Geisteswissenschaft eine Selbstbeschreibung abliefern kann, ohne sich in Abstraktionen zu verrennen.
8 Denn einmal festgezurrt können sich totalitäre Mechanismen schnell verfestigen und am Ende nur noch durch Gewalt auflösen lassen. Es gibt kein einziges Beispiel in der Geschichte, wo ein tyrannischer Staat friedlich in eine offene Gesellschaft wechselte.
9 Manchmal fragt man sich, wieweit das noch gehen soll, dass wir zu ‚Verkäufern‘ von uns selbst und dem Planeten werden und jede Handlung unter einem Nutzenaspekt gesehen wird. Menschen filmen andere beim Sterben, ohne helfend einzugreifen, liegen kurz nach dem Tsunami sich weiter bräunend am Strand oder kaufen Produkte, die sie nach kurzer Zeit wieder wegschmeißen. Die erpresserische Alternativlosigkeit der neoliberalen Agenda aus dem Grund der Arbeitsplatzerhaltung mündet in Abstumpfung und Resignation für alle diejenigen, für die das Rennen vorbei ist. Nicht nur Europa sucht nach einer neuen Vision, die ganze Welt tut es.
10 In gewisser Weise erwacht der Mensch mit der digitalisierten Postmoderne überhaupt erst aus einem seligen Schlaf, aus dessen Träumen ihn nur Philosophen von Zeit zu Zeit rissen. Denn die Erschaffung seines bio-elektronischen Ebenbildes zwingt ihn, sein Verhältnis zur technischen Schöpfung nun endgültig zu definieren und sich von der Illusion zu lösen, dass dort etwas außerhalb von ihm wäre, das die Probleme des (Neo)-Feudalismus für ihn lösen würde. Die kommende Generation nach den Millennials und der Generation Y wird allerdings ein weniger ambivalentes Verhältnis zur Computertechnik haben, da sie mit dem Smartphone im Laufstall aufgewachsen ist, und ihr die Möglichkeiten und Gefahren des Umgangs mit KI besser bekannt sind. Die Drittfigur des Cyborgs bleibt der Maßstab, an dem die ‚Digital Natives‘ sich selbst messen, die unvermeidlichen technischen Entwicklungen sichtbar zu machen und ihre Auswirkungen auf den Menschen. Gerade wenn es starke Selbsthemmungsmechanismen geben wird, die eine kritische Distanz unterbinden, sollen die ‚Technikfreaks‘ uns zeigen, was im Hintergrund sowieso schon läuft und uns ein Ausdrucksmittel an die Hand geben, den Sinn der Mechanismen zu erfassen. Je technischer die täglichen Routinen sind, desto größer ist das Bedürfnis nach Liebe und echter Gemeinschaft. Diese kann aber nur im Verstehen erfolgen und nicht in der Ausblendung der Realität, auch wenn diese Realität mehr und mehr eine virtuelle wird.
11 Wie kritisch sich aber auch die ständige Suche nach etwas ‘Besonderem’ auf Kinder auswirken kann, zeigt Alice Miller in ‚Das begabte Kind‘.
12 Das Thema ist schon im ältesten überlieferten Text der Menschheit angelegt, dem Gilgameshepos, dessen Wurzeln sich bis in die Zeit um 3000 v. Chr. Zurückverfolgen lassen (Textaufzeichnungen knapp 1000 Jahre später). Es geht um einen gebildeten Stadtmenschen, der eine Beziehung zu Enkidu eingeht, der mit den Tieren auf dem Land groß geworden ist und durch eine Prostituierte in die Stadt kommt. Doch sein Freund stirbt schließlich und der Rest der Geschichte dreht sich darum, dass Gilgamesh der Sterblichkeit der Menschen entrinnen will. Er als unsterblicher ‚Gott‘ fühlt sich verflucht, unter den Bedingungen der Zivilisation zu leben und weiß durch Enkidu, wie einfach und unverstellt das Leben der ‚Sterblichen‘ sein kann.
13 Der Großteil unserer Kommunikation besteht nach wie vor aus dem, was herkömmlich als Klatsch bezeichnet wird. Auch in den Naturwissenschaften kommt man mit Logik allein nicht durch den Alltag. Die Beliebtheit einer Serie wie der Big Bang Theory beweist, wie klischeeorientiert auch Wissenschaftler sein können, die diese Serie vorzugsweise verehren (ähnlich wie ‚Per Anhalter durch die Galaxis‘). Wobei sich natürlich jetzt sofort jemand finden wird, der das Gegenteil beweisen will.
14 In nenne sie Dualrollenebenen, weil auch sie auf einem Antagonismus beruhen. Anders als die komplementären Rollen enden sie aber nicht in einer Hierarchie, sondern öffnen Raum für etwas Drittes. Denn Binarität lässt sich einmal als die Verschmelzung zweier Pole denken, die etwas Neues hervorbringen, oder als etwas ausschließliches, bei dem es nur schwarz oder weiß gibt.
15 Deshalb werden derartigen Anordnungen besser kybernetische Modelle gerecht, die die Prozesshaftigkeit und den Wandel der Strukturen betonen. Sie können in diesem Buch nur ansatzweise skizziert werden und werden vielleicht besser beschreibbar, wenn entsprechend umfangreiche Algorithmen existieren, die soziale Interaktionen in Echtzeit erfassen können.
16 Die Funktion des Mythos ist das Andeuten des Unaussprechbaren, das in der jeweiligen Totalität seiner Zeit gefangen ist. Für Luhmann war er der Schlüssel zur Unterscheidung von gewohnt/ungewohnt und der Integration fremder Anteile in das System (Niklas Luhmann, 1984, Brauchen wir einen Neuen Mythos? in Soziologische Aufklärung 4).
17 Jan-Philipp Sendker erzählt in seinen Reisetagebüchern aus China anschaulich, wie er trotz der guten Beherrschung der Landessprache Mandarin die größten Schwierigkeiten hat, die Bedeutung des Gebrauchs der Floskeln jeweils auseinanderzudividieren.
18 Z.B. als Höhergestellter für den Fehler des ‚Untergebenen‘ zu haften oder als niedriger Gestellter auf Regelverstöße hinzuweisen, auch wenn dies unbequem ist. Die beiden Ebenen des sozialen Miteinanders, die offizielle und die subversive, durchweben sich ständig und führen zu Sprechchaos, wenn sie nicht im jeweiligen Verhältnis von zwei Menschen geklärt werden. Jeder kennt das aus seiner Beziehung, dass Anspielungen vom anderen selbst nach Jahren nur dann verstanden werden, wenn auch die entsprechende ‚Stimmung‘ dazu da ist. Wenn Maschinen die Durchwebung dieser Sprachebenen erkennen können sollen, dann müssen sie ein grundlegendes Verständnis vom Menschen erwerben. Doch wollen wir das überhaupt? Es wird in den nächsten Jahrzehnten wohl darum gehen, eine Ebene zu finden, auf der wir derartige Fragen beantworten können und jeder einzelne muss die Antworten darauf für sich selbst finden, ohne den anderen in seiner Meinung zu verurteilen. Die damit verbundenen Ängste sind kaum auszuhalten, denn es geht darum, sich in etwas zu verwandeln, von dem man nicht weiß, was dies ist.
19 Nebeneffekt ist eine Lösung für den inflationären Gebrauch von psychologischen Merkmals-Verschreibungen, die Erkrankungen der Seele genauestens diagnostiziert, ohne sie kurieren zu können. Posttraumatische Belastungen, die durch die Kriegsgenerationen weitergegeben wurden, dürften weiterhin der Hauptgrund psychischer Belastung sein und seltsamerweise muss bei Trauma-Diagnose nach dem DSM als einziges ein auslösendes Ereignis benannt werden, was wiederum leicht zu einer Retraumatisierung führen kann, wenn der Patient dann damit doch nicht ernst genommen wird (Bode 2017).
20 www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/arbeitslosenstatistik-so-hoch-ist-die-verdeckte-arbeitslosigkeit-a-1133354.html
21 Zitiert aus Meridian 2018/01, S. 52 nach Wilfried Henkes
22 In der systemischen und narrativen Arbeit wird versucht, einen Zugang zu dem Selbstverständnis zu schaffen, sich diese Rollen nehmen zu können, um andere zu ‚befreien‘ und dem Kern gemeinsamen, kulturellen Daseins näherzukommen.
23 Sogar im Militär ist eine direkte Aussprache unter verschiedenen Rängen erwünscht, den letzten Befehl erteilt allerdings unwiderruflich der Höherrangige.
24 Und die die Haftung für eventuelle Schäden übernehmen, was zurzeit eine Diskussion bezüglich des Verantwortungsbereiches selbstfahrender Autos auslöst. Dabei wird es wahrscheinlich dabei bleiben, dass der Mensch fährt, weil das die Motorik in einer bewegungsarmen Welt trainiert und das Gefühl der Kontrolle belässt. Er wird aber wohl von einem Computer überwacht werden, so wie auch seine Gesundheitswerte überwacht werden. Manche haben die Hoffnung, dass dabei das große Geheimnis der Innenperspektive und Motivation im Sinne der Optimierung von ‚predictive analysis‘ preisgeben sollen. Doch der Mensch war schon immer leicht vorausberechenbar, da er ja seinen Mitmenschen stabil erscheinen will. In sein ‚Innerstes‘ wird man nie schauen können, weil es das nicht gibt. Es entsteht mit den Auseinandersetzungen der Umwelt in jeder Sekunde neu.
25 Auch die Ehe ist eine Institution, aus der wir uns unabhängig aus unserem eigenen Bedürfnis heraus anders verhalten, je nachdem ob wir in Loyalität zu unserem Partner handeln oder nicht. Für diese Anpassungsleistung erhalten wir Sicherheit und vor allem Anerkennung von jenen, die wertschätzen, dass es jemand scheinbar gut so lange mit uns aushält.
26 Und sich nach dem Peter-Prinzip Posten für Posten hochhangeln, bis sie schließlich auf einem Posten sitzen, der sie überfordert.
27 Die Teilhabe wurde schon in prähistorischen Gesellschaften durch Orden, Abzeichen, Uniformen, einschlägige Gesten und typische Verhaltensabläufe gekennzeichnet.
28 Im Grund genommen sind alle unsere Handlungen und ihre Motive zwiefältig; einmal bezogen auf die jeweilige Korporation, die wir vertreten, und einmal bezogen auf unser persönliches Interesse. Welches Motiv überwiegt, ist oft nicht klar darstellbar, sondern wird durch dafür vorgesehene Formeln und Floskeln ausgedrückt, die der allgemeinen Bedeutung des Wortlauts nicht selten widersprechen. So entstehen die für jedes Kommunikationssystem typischen Allgemeinplätze nicht nur in der Politik. Luhmann stellt dies so oft heraus, dass die Orientierung an einer Leitunterscheidung die andere Seite nicht automatisch mit einschließt, dass das Recht beispielsweise kein Unrecht bekämpft, dass es manchmal ermüdend wird (das Unrecht wird von der Exekutiven bekämpft). Eines ist allerdings wahr: Hierarchische Beziehungen lassen sich tatsächlich manchmal auf die Formel zahlen/nichtzahlen reduzieren.
29 Demokratische Wahlen ermöglichen die Wahl zwischen viel und wenig Staat. Und wenn es nicht vielmehr ist, so ist dies das entscheidende. Das politische Wechselspiel konservativer und progressiver Kräfte funktioniert in Amerika beispielsweise seit über 200 Jahren, weil die anderen Institutionen der Gesellschaft, das Recht, die Wirtschaft, die Wissenschaft, das Militär usw. sich mit der Demokratie mitentwickelt haben und in instabilen Zeiten wie etwa der Zeit der großen Depression ein Gleichgewicht der Kräfte bewahren konnte.
30 Diese tertiären Kommunikationen finden natürlich auch innerhalb der Institutionen statt; ja deren Abläufe sind bei genauerer Betrachtung auch in den funktionalsten Kommunikationen gar nicht anders möglich als durch komplexe Mentalisierungsprozesse und sensible Triangulierungsversuche gegenüber anderen, wo wir uns in die Vorstellung unbeteiligter Dritter hineinversetzen und sie stellvertretend in unserem Geist handeln lassen.
31 Sie bewegen sich ähnlich der sozialpsychologischen häufig in Größenordnungen von 4 – 9 Elementen und ordnen Geschmacksrichtungen, Stilrichtungen, Schichten, Epochen, Charaktermerkmale, Genres, Konfliktarten usw. Die mittelalterlichen Temperamente sind z.B. denen der modernen Persönlichkeitstypen sehr ähnlich. Allerdings ist nie eine Evidenz zwischen Planeten und menschlichem Handeln gefunden worden (siehe Eysenck/Nias). Die braucht es meiner Meinung auch nicht, denn ich sehe die Astrologie als ein Narrationsinstrument, das uns die Fehlbarkeit unserer Überzeugungen spiegeln hilft und damit zur Schärfung des Selbstbildes beiträgt.