Leseprobe


Cecil und O´Hara hatten sich je eines der Freecycles genommen; Fahrräder, die man in Tehuacan jederzeit frei benutzen konnte. Die Satelliten gesteuerte Auffindung war zwar nicht mehr möglich, das Suchen dauerte aber auch nicht viel länger, da sich jeder bemühte, die Räder nach Gebrauch gut sichtbar auf öffentlichen Plätzen abzustellen. Für
Cecil war auch diese Handhabung eine neue Erfahrung gewesen. In New York war sie nur mit der U-Bahn oder dem Bus unterwegs gewesen. Sie genoss sichtlich die Freiheit und die Nähe zu O´Hara. Ihre Lenker berührten sich manchmal leicht und für O’Hara fühlte es sich wie kleine Stromschläge an.
„Die Stadt ist wunderschön“, sagte sie. O’Hara lächelte darüber, dass Cecil im Takt der schwebenden Töne hin und her wogte. Er betrachtete ihr im Wind flatterndes Haar und nahm erstmals die Strähnchen wahr. Ihre Bewegungen hatten etwas wunderbar Fließendes. Ein kitschiger Spielfilm kam ihm in den Sinn. Warum werden Vorstellungen auf so grobe Art unterbrochen? Er konnte sich nicht an dem simplen Bild festhalten, dass er sie einfach nur mochte. Nein, er musste gleich wieder einen Käfig bauen.
„Wieso grinst du?“ fragte sie.

„Du hast doch auch gegrinst“, erwiderte er. Sie schaute ihn an: „Wo sind deine Augen?“ Eine wunderschöne Melodie ertönte von einem der Türme. Er mochte ihre Art zu sprechen. Wenn sie die Worte so verzögerte und am Ende eine unbewusste Verknüpfung zu etwas Persönlichem zog. Dann erreichten sie das Psychic Café. Der Eingang zum Gewölbekeller sollte direkt nebenan sein, doch O’Hara fand nichts. „Hier sollte ein Eingang sein“, sagte O’Hara. Cecil lächelte. Sie hatte das unauffällig bemalte Tor zwischen den Sträuchern schon längst entdeckt. Es zeigte einen Pelikan zwischen Haselnusssträuchern, der seine Brust aufriss, um seinen Jungen mit seinem Blut zu tränken. O’Hara hatte es gar nicht wahrgenommen, als er nach seiner Ankunft mit Celsnik und Wolfgang Horneck Kaffee getrunken hatte. Er wunderte sich umso mehr, weil es genau dasselbe Bild war, dass er Jahre zuvor in einem  Blog benutzt hatte. Der Meditationsabend hatte schon angefangen. Etwa zwanzig Leute saßen oder lagen in einem verdunkelten Raum auf dem Boden, der mit Schafwoll-Matten ausgelegt war. In der Mitte brannten ein paar Kerzen und beleuchteten die schönen Halbedelsteine, die zu einer Spiralform ausgelegt waren. An den Wänden hingen Teppichunikate und verbreiteten eine gemütliche Atmosphäre. Es roch dezent nach Räucherkerzen und Patschuli. Wolfgang Horneck war auch da. Ingo Anzer nickte den beiden zu. Alles war in stiller Meditation. Sie
setzen sich leise dazu und Cecil schloss die Augen. „Wir wollen uns nun verbinden.“ Die Stimme von Anzer durchströmte klar den Raum.

„Geht ganz in euer Herz und spürt, was dort ist. Wir sind ein Teil der Schöpfung und werden jetzt eins mit dieser Energie. Warmes Licht durchflutet uns.“ Er machte eine lange Pause. O´Hara hatte erst einmal gar nichts gespürt. Dann prasselten Gedanken auf ihn ein und er konnte sich auf gar nichts konzentrieren. Er sah Cecil aus den Augenwinkeln. Sie strahlte eine wundervolle Ruhe aus.
„Warum kann ich mich nicht entspannen?“ dachte er. Anzer fuhr fort: „Ihr schreitet durch einen langen, weißen Raum. An dessen Ende befindet sich eine Tür. Wenn ihr euch entscheidet, die Tür zu betreten, erscheint ein helles Licht. Lasst euch allein von euren Vorstellungen leiten.“ Bei diesen Worten flackerte plötzlich die Raumbeleuchtung, was die meisten aber nicht mitbekamen, da sie ja dide Augen geschlossen hatten. O’Hara schaffte es nicht, seinen Atem zu beruhigen. Seine Gedanken hüpften hin und her.

Es sah sich als kleinen Jungen. Es war in einer sehr dunklen Nacht gewesen, als er den Vollmond das erste Mal bewusst wahrgenommen hatte. Die Vorhänge in seinem Kinderzimmer bildeten ein schwarz-weißes Gewirr von herabhängenden Ästen. Das hatte ihm immer Angst eingeflößt, so dass er den Anblick mied. Er sah den Mond hinter einer Wolke hervor treten; die Äste warfen ihre unruhigen Schatten in das Zimmer. Als Anzer sagte: Nun schaut euch mal um, wo ihr gelandet seit“, hatte er schnell die Vorhänge zurückgezogen.
Der Mond blendete für einen Augenblick, dann sah er einen Mann auf einem Pferd vorbei reiten, der ihm etwas zuzurufen schien. Ganz erstarrt hatte er sich nicht entschließen können, ob er wegrennen oder sich unter der Bettdecke verkriechen sollte. So blieb er minutenlang atemlos einfach im Zimmer stehen. Als der Reiter weg war, blinkte ein Licht in ferner Distanz auf. Der unbändige Wunsch war in ihm aufgekommen, dorthin zu gehen, wo das Licht war, und nie wieder zurückzukehren. Am nächsten Morgen war ihm nicht gut. Er hatte Schuldgefühle, weil der Wunsch, von zu Hause abzuhauen so stark gewesen war. Oft zog er die Gardinen auch tagsüber zu. Er ahnte, dass dies ein Teil seines Schicksals war, den er mit niemand teilen konnte. Seine Eltern waren wenig da, abends schauten sie Krimiserien, die sich inhaltlich kaum voneinander unterschieden. Er fragte sich öfters, was das für eine Auswirkung auf das Bewusstsein hatte. Als seine Eltern ihn einmal auf die geschlossenen Gardinen ansprachen, traute er sich nichts zu sagen.

Er wusste auch nicht, was er hätte sagen sollen, denn sein Vater nahm das, was man ihnen erzählen wollte nicht richtig auf. Ernsthaftes verstand er als Spaß und wenn man einen Scherz machte, war er eingeschnappt. Die Mutter redete überhaupt nicht, wenn er nicht da war. Er wusste nie genau, woran er war und redete möglichst nur das Notwendige.
Die Geräusche des Reiters waren noch in vielen weiteren Nächten zu hören gewesen, aber nie hatte sich O’Hara wieder getraut, wegen dieses verführerischen Lichts die Vorhänge zurückzuziehen und nachzuschauen. „Wir kommen jetzt langsam aus der Meditation wieder heraus.“ Anzers Stimme schwang in seine Gedanken hinein. Er sah dieses Licht wieder. Es war das gelblich, blasse Flimmern, das aus der Ferne zu kommen schien und ihn wieder in Trance versetzen wollte. Er hatte auf einmal keine Angst mehr vor ihm. „Wir schütteln ganz langsam unsere Arme und Beine aus und lassen uns Zeit dabei.“ Eine volle Stunde war vergangen. O’Haras Bein war eingeschlafen.

Er massierte seine schmerzenden Muskeln. Ihm wurde klar, dass seine Probleme vielschichtiger waren, als er angenommen hatte; er war beileibe nicht der unkomplizierte Mensch, als den ihn jeder sah. Er spürte, dass er mehr über die Methode der ‚Rückführung‘ herausfinden
wollte, aber dieser Ingo Anzer war ihm so suspekt, wie das, was er über Reinkarnationstherapie bisher in Erfahrung gebracht hatte. Es war etwas in seinen Augen, das ihn beunruhigte, ohne es konkret benennen zu können. Gleichzeitig zog ihn Anzers Gegenwart aber auch magisch an, und das schien nicht nur ihm hier so zu gehen. Er beobachtete die Gesichter der Menschen. Manche wirkten entrückt.
„Wenn ihr wollt, könnt ihr über eure Erfahrungen sprechen“, sagte Anzer.  „Wie sind wir in diese Meditation hinein gekommen?“ fragte ein Teilnehmer. „Durch das Abschalten des Tagesbewusstseins“, antwortete Anzer. Es gibt vier Ebenen des Gewahrseins. Je tiefer wir das verlassen, was wir die Realität nennen, desto genauer werden unsere Erinnerungen an
die Vergangenheit, und wir können mit diesen Bildern arbeiten. Die Blockaden oder das was wir Gewissen nennen, lösen sich dabei von den gefestigten Strukturen. Es gibt Möglichkeiten, die ‚normale‘ Zeit zu verlassen und Dinge in der Zukunft oder in der Vergangenheit zu heilen.“ „Kann man Menschen in ihrem Willen mit diesen Übungen beeinflussen?“ fragte O’Hara.
„Nicht, wenn sie dabei einschlafen.“ Die anderen lachten. „Wir sind immer beeinflussbar“, fügte er hinzu.  „Sie meinen, eine Idee lädt zur Projektion ein?“ fragte O’Hara und antwortete selbst: „Wir suchen dann unbewusst nach Menschen, die unsere Idee bestätigen. Dazu brauch ich aber keine Hypnose …“

Anzer ließ sich nicht aus der Ruhe bringen: „Ich möchte ein Beispiel geben. Wir sind wie Wassertropfen in einem großen Meer, die man herausgenommen hat und auf die Erde hat fallen lassen. Wir machen unsere individuellen Erfahrungen. Wenn wir nicht herausgekommen wären aus dem Meer, dann würden wir diese Erfahrungen auch nicht machen und uns nicht transformieren.“
„Und wann kehren wir zurück in den Ozean?“ fragte eine Teilnehmerin „Bis der Tropfen wieder verdampft“, rief jemand unter Gelächter. Laute Geräusche aus dem Nebenraum wurden hörbar, wo ein paar Jugendliche wohl etwas viel getrunken hatten.
„Kann man die auch transformieren?“ Wieder lachten alle. Doch die Geräusche wurden lauter, jetzt ertönte auch noch lautstark monotone Musik. Einige Teilnehmer regten sich auf. Aber eine Dame mit einem orangefarbenen Kostüm sagte sanft: „Vielleicht sollte man ihnen einfach mal zuhören!“ Es wurde ruhiger drüben. Trotzdem stand ein Mann auf, ging rüber und sagte: „Liebe Leute, wir unterhalten uns hier in Ruhe, könnt ihr bitte etwas leiser sein?“ Cecil hatte auch eine Frage:

„Es hat zwar nichts mit der Meditation zu tun, aber warum war es beim Polsprung dreißig Stunden lang dunkel?“ „Es war nicht dunkel“, sagte ein anderer. „Doch, ich habe es auch so empfunden“, fügte ein dritter hinzu. Anzer hob die Hand, um die Unruhe, die entstanden war, zu beruhigen. „Wir haben beim Polsprung für ungefähr dreißig Stunden das Gedächtnis verloren, weil es kein stabiles Magnetfeld gegeben hat“, sagte er dann. „Aber nicht jeder hat das gleich empfunden. Manche haben gar nichts empfunden, andere sind bis heute nicht wieder ganz zurück in ihrer Erinnerung. Da wir alle über unseren persönlichen Vortex mit dem des Erdkerns verbunden sind, können wir die Lücke kompensieren und langsam wieder in unser gewohntes Bewusstsein zurückkehren.“ „Was ist denn ein Vortex?“ fragte Cecil.
„Ein Vortex ist ein Wirbel von magnetischen Atomen, die durch eine bestimmte Legierung extreme Feldkräfte aufbauen; sie befinden sich sowohl in bestimmten Gehirnzentren, als auch im Inneren der Erde. „Es gibt auch eine Theorie“, rief der erste aufgeregt, „dass es gar keinen Polsprung gab, sondern dass jemand eine Wasserstoffbombe in der Atmosphäre gezündet hat, dadurch gehen auch alle elektrischen Geräte kaputt.“

O’Hara wurde ärgerlich ob der Unlogik. Dann hätte sich ja wohl kaum der Erdmantel um den Kern gedreht. Und das ein neuer Sternenhimmel aufgezogen war, müsste sich wohl rumgesprochen haben. Wahrscheinlich gab es dafür aber auch eine ‚alternative
Erklärung‘. Die Dame, die den Vorschlag gemacht hatte, den Jugendlichen zuzuhören,
sagte: „Das ist mir alles viel zu viel im Kopf. Ich brauche das jetzt nicht zu wissen.“
„Richtig“, antwortete Anzer ruhig, „wollen wir noch eine Übung machen,  die hilft, uns zu stabilisieren?“ Viele nickten zustimmend. „Dann stellt euch immer in Paaren auf und schließt die Augen. Bewegt eure Hände und versucht ohne Berührung mit euren Händen zu erahnen, wo der andere ist.“
O’Hara wollte dabei nicht mitmachen. Er hatte auch noch etwas zum Thema Polsprung sagen wollen. Aber Cecil kam schon auf ihn zu. Die Teilnehmer hatten sich im Raum verteilt, eine meditative Musik setzte ein und alle schlossen die Augen. O’Hara begann seine Handflächen zu bewegen und meinte, Cecil spüren zu können. Er öffnete leicht die Augen und in der Tat waren ihre Bewegungen synchron. Immer wieder schielte er und immer waren ihre Augen geschlossen und ihre Handflächen beieinander. Mysteriös.
Nach der Übung sagte Anzer: „Ihr könnt gerne noch hier bleiben und euch austauschen oder eine Tasse Tee trinken. Es gibt heute japanische Kirschblüte und Männertee.“
Die Teilnehmer kamen in angeregte Diskussionen. O’Hara stand wieder etwas steif da, weil ihm nichts einfiel, womit er sich thematisch beteiligen konnte. Aber er hatte auch gar keine Lust auf vertiefende Gespräche. Zu sehr war er noch mit den Gardinen beschäftigt. Schließlich setzte er sich gemütlich in einen großen Ohrensessel. Wie er über die Diskussion nachdachte, fiel ihm ein, dass er Menschen mit seinen Zweifeln oft provoziert hatte, obwohl er sich gleichzeitig den Anschein eines ‚normal harmonischen‘ Geistes zu geben versuchte.

Es fehlten nach wie vor die Freunde, mit denen er über mehr als Oberflächliches reden konnte. Celsnik war zwar ein lieber Kerl, aber er hatte nur Interesse für Computer. Der einzige Mann, mit dem O’Hara sich auch über Philosophie unterhalten konnte, war Horneck. Die zwanzig Jahre Unterschied machten sich allerdings bemerkbar; Horneck hatte bestimmte moralische Prinzipien, die den offenen Austausch erschwerten. Zusammen mit O’Haras Wunsch nach harmonischer Synthese
endeten die Gespräche manchmal in peinlichen Floskeln. Das tat der Freundschaft aber keinen Abbruch. Cecil redete schon längere Zeit mit Anzer. Sie schaute sich nach ihm
um und warf ihm einen besorgten Blick zu. Es war genau diese Art, die er nicht mochte. Aber genau, als er das dachte, lächelte sie wieder und sein Lächeln schmolz in diesem Zweifel. „Als ob sie genau weiß, was ich denke“. Er schloss die Augen. „Na, schon wieder in Gedanken?“ Cecil stand jetzt ganz dicht neben ihm.
„Selber.“ Er hasste sich für seine Unfähigkeit, seine Gefühle auszudrücken, wenn er verliebt war. Ja, jetzt hat er es sich endlich selbst zugestanden. Er war verliebt. Es war wie eine Lähmung oder eine geistige Behinderung. Gerne hätte er jetzt das ausgedrückt, was er gerade fühlte, aber aus seinem Mund kam nur ein: „Und? Hast du dich gut amüsiert?“ Cecil spürte die Abweisung und Distanz in seinen Worten. Irgendwie stand er unter Stress, weil er dachte, dass seine Linkischkeit jetzt einen großen Kontrast zu dem interessanten Gespräch bilden würde, welches Cecil wahrscheinlich mit Anzer geführt hatte. Doch indem er das dachte, merkte er, wie kindisch es war. Wolfgang Horneck näherte sich ihm zögerlich. „Ich freue mich, dass du gekommen bist. Wie hat dir Anzer gefallen?“ Er sah ihn erwartungsvoll an. O’Hara fiel keine spontane Antwort ein und Horneck war schon wieder mit dem Nächsten am Diskutieren.
Cecil stand noch immer neben ihm. Es erschien ihm wie eine halbe Ewigkeit, bevor er sich überwand und fragte: „Kommst du noch mit zu mir?“
„Gerne“, antwortete Cecil zu seiner Überraschung sofort. „Ich bin nur sehr müde.“