Kapitel aus Astrologische Soziologie, Band II – Rolle und Ideal

Astrologie gibt Idealbilder vor (dort meist ‚Archetypen‘ genannt), die in der Deutungsarbeit mit immer neuen Inhalten gefüllt werden. Der Löwe kann majestätisch und selbstbewusst zu sein, die Jungfrau fleißig und penibel. Sie muss es aber nicht. Es ist ein Vorschlag zur gesellschaftlichen Einigung. Determinierend ist nicht das Bild, sondern dessen Erfüllung in der Rolle. Die jeweilige Rolle orientiert sich an einem Idealtypus, wie er auch von Max Weber definiert worden ist, der dabei auf die Arbeit von Ferdinand Tönnies zurückgreift. Er beschreibt in idealisierter Form Gattungsbegriffe der Gesellschaft, Ideen von Bildungs-Geschichten, sowie personale Relationen, die sich historisch systematisieren lassen. Diesen Ansatz möchte ich für die moderne Astrologie übernehmen, die sich um eine realitätsgetreue Abbildung der jeweiligen Gesellschaft bemühen sollte, in der sie tätig ist. Das heißt, Abstand nehmen von nicht belegbaren Modellen des Unbewussten und Idealisierung einer angeblich besseren Vorzeit und Orientierung an aktuellen Gesellschaftsmodellen, die Persönlichkeit des Menschen sowohl in einen Bezug zu den neuen Identitätstheorien der Neuro- und Sozialwissenschaften stellen, als auch zu seiner evolutionären Entwicklung.

Weber belegte, dass das westliche Vorbild von Recht, Bürokratie und kulturellem Austausch wegweisend für das Denken der Neuzeit und die Bildung von Staaten war. Als Jurist und Geschichtsforscher sieht er deren Idealbilder als methodisches Mittel an, um zum Wesentlichen sozialer Beobachtung zu gelangen.[1] Vom Kindergarten über die Schule und Ausbildung, über die Gründung einer Familie und Eingliederung in die Arbeitswelt bis zur Ausbildung von differenzierten politischen, religiösen und weltanschaulichen Vorstellungen orientieren wir uns an Idealtypen, die im Ringen um eine moderne Gesellschaft und eine friedlich organisierte Kultur entstanden sind.[2] Die dazugehörigen Rollen, etwa des mutigen Bloggers, des bürokratischen Erbsenzählers, des belesenen Bürgerrechtlers usw.,  dienen als Orientierung und Einstiegshilfe in die Strukturen der modernen Gesellschaft und damit der Entlastung und Orientierung;[3] sie erlauben aber auch Variation und eigenständige Interpretation. Inzwischen sind die Schattenseiten dieser Organisationsform deutlich geworden und werden durch Vorbilder anderer Kulturen ergänzt und erweitert. Die Vorgabe eine Rolle hilft, der Totalität und Anonymität der Institutionen und den Auswirkungen des Kapitalismus zu begegnen und die zugewiesene Aufgabe mit individuellen und damit das System zu ‘vermenschlichen’.[4]

Da die Astrologie nach wie vor eine gesellschaftliche Institution ist, ist die Weber‘sche Vorgehensweise der Bildung eines Idealtypus, von dem man weiter abstrahiert, natürlich auch auf sie anwendbar. Der Astrologe kommt meiner ersten Einschätzung nach häufig aus einem Milieu, das auf einfache Weise Toleranz und Mitgefühl lebt, nicht zu verbildet, aber auch nicht ohne Anreize der kreativen Erziehung und der humanistischen Aufklärung. Die wäre allerdings zu untersuchen. Für mich nimmt die Astrologie eine sehr spezielle Rolle zwischen dem was wir nur ungefähr als ‘Volksglauben’ beschreiben können und den psychologischen Entscheidungsfunktionen der Eliten ein, (wobei auch die Definition von Eliten soziologisch alles andere als einfach ist). Um diese Zwischenposition spielen zu können, muss man in einem gefestigten Selbstbild aufgewachsen sein und von klein auf gelernt haben, die Grenzen der Welt in Frage zu stellen.[5] Es geschieht meiner Beobachtung nach häufiger, dass ein Mensch aus einem solchen offenen Elternhaus die Astrologie als Fach für sich wählt, weil er dort ein noch unvoreingenommenes Spielfeld für seine Kreativität findet. Wenn er denn die Rolle als verbohrter Exzentriker und seltsamer Esoteriker annehmen kann.

Wenn wir das Gedankenexperiment wagen und uns die Bilder der Astrologie vor das geistige Auge führen, dann erscheinen die von ihr gebildeten Typen gar nicht so weit entfernt von den modernen Kategorien der Sozialforschung. Der Idealtypus sollte als Ausgangspunkt konkreter Vorstellungen nach Weber sowieso historische Bezüge haben und sodann in der Analyse von Ideologien, Utopien, usw. den Bezug zu einer sachlichen Ausgangsfrage herleiten. „Historisch, weil Weber das weltgeschichtliche Material idealtypisch ordnet und soziologisch auf den Begriff bringt; systematisch, wie er auf diese Weise – nolens volens – einen Beitrag zur Gesellschaftsgeschichte der okzidentalen Modernisierung leistet.“[6]

Soziales Handeln, soziale Beziehung und soziale Ordnung bilden sich für Weber nicht nur an rationalen und zweckorientierten Handlungs-Systemen ab, sondern an allen modernen Ordnungsgefügen, die Menschen Sinn und Halt geben. Als Astrologe sollte man beachten, dass die Konstruktion des Idealtypus nur ein Zwischenschritt zur Auflösung von Stereotypen ist. Es wird niemals einen Löwen oder eine Jungfrau in Reinform geben. Die Sternzeichen sind eine Hilfe, um komplexe psychische Zusammenhänge einfacher zu beschreiben und die dahinterstehenden problematischen Sachverhalte zu verstehen.

„Wo wir als Erfahrungswissenschaftler auf Sinnhaftes stoßen, sollen wir verstehen, weil uns dies zu einem besseren Erklären verhilft. Denn Verstehen steht nicht im Gegensatz zum Erklären, sondern in dessen Diensten: Es schafft, so Weber, eine Mehr an Erklärung. Weil Menschen regelorientiert handeln können, lässt sich ihr Handeln ‘berechnen’ und Wahlfreiheit ist die Voraussetzung für die Fähigkeit der Regelbefolgung.“[7]. Um über Nominaldefinition etwa wie Sozialismus und Kapitalismus, Klassifikationen von Milieus und Schichten, aber auch von Esoterik und Religion hinauszukommen, entwirft Weber die Vorstellung vom Idealtypus. „Der Idealtypus wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr oder weniger, stellenweise gar nicht vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankengebäude nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbild steht.“[8]

Dem Astrologen ist es wie dem systemischen Berater vertraut, von den beobachtbaren Handlungen und Motiven der Individuen zu abstrahieren und die Ereignisse in ein in sich schlüssiges System von Aussagen zu überführen. Dieses System von Aussagen macht wiederum weitere Aussagen notwendig, die sich in rekursiver Weise auf den Ausgangstypus beziehen, wie Max Weber z.B. an dem Bild des Propheten eindrucksvoll belegt hat, dem wir gleich begegnen werden. Der von ihm definierte Idealtypus selber ist bloß „’Mittel’, ‘Gedankenbild’ bzw. rein ‘idealer Grenzbegriff’, um die Wirklichkeit analytisch trennscharf erfassen zu können.“[9] Er ist ein konstruiertes Bild eines rational handelnden Menschen innerhalb eines nicht immer klar bestimmbaren Wirkungsbereiches. Ein weiteres bekanntes Beispiel von ihm ist der fleißige Protestant (Calvinist, Evangelikale), den er als Urfigur des Kapitalismus beschrieb und in dem er den Vorboten des Einsamkeitsgefühls der Moderne sah.

Nach der calvinistischen Lehre der doppelten Prädestination werden die fleißigen gerettet und die anderen verdammt, so dass nur ehrliche Arbeit auf Dauer eine Erlösung bringt. „In ihrer pathetischen Unmenschlichkeit musste diese Lehre (von der doppelten Prädestination) nun für die Stimmung einer Generation, die sich ihrer grandiosen Konsequenz ergab vor allem eine Folge haben: ein Gefühl einer unerhörten Vereinsamung des Individuums.“[10] Mit einem System von religiös abgeleiteten Begriffen zeichnet Weber die spirituelle Praxis der protestantischen Kirchen detailgetreu nach und belegt den Einfluss auf die kapitalistische Ideologie der Moderne. Er kommt in diesem Prozess an den Kern der im Anlegen vergleichender Maßstäbe innwohnenden typischen Vorurteile und Abwertungen bezüglich von Leistungsmaßstäben, die für ihn in der Wirtschaft einen quasireligiösen Charakter annehmen. In Differenz zu den Idealtypen erscheinen die Abstufungen und Veränderungen der religiösen Zeiten und ihrer Milieus einschließlich der schwer verständlichen und teilweise irrationalen Verhaltensweisen der technologischen Eliten.

Den Anfang nimmt die Geschichte nach Max Weber immer im konkreten Sinnbedürfnis des Menschen und in der Suche nach lebbaren Gemeinschaftsformen. In diesen abstrahiert der Mensch die Erkenntnis von sich selbst anhand eines ‘Idealtypus’, den es nicht wirklich gibt, wie er aber durch die Bilder des Alltags vervielfältigt und getragen wird. „Ausgangspunkt ist (nach Max Weber) zwar immer der individuelle Akteur und der subjektiv gemeinte Sinn seines Handelns. Das ist aber zugleich nicht der Endpunkt.“[11] Diese Figur ist auf alle gesellschaftlichen Institutionen übertragbar, die einen historisch gewachsenen Kern und eine immer weiter modernisierende Nomenklatur besitzen. Also auch auf die Astrologie.

Sie hat ihre Rolle über die Jahrtausende an die wechselnden gesellschaftlichen Verhältnisse angepasst, so wie es in allen anderen Fächern auch der Fall war und ist Teil eines Ordnungsgefüges geblieben, die sie durch ihre Beschreibungen mitgeprägt hat. Es gibt Zeiten, in denen die Astrologie eine größere Rolle gespielt hat, wie etwa im frühen Mittelalter, in der Zeit der Frührenaissance oder während der 68er Zeit und es gab Zeiten, in denen sie in der Öffentlichkeit weniger präsent war wie heute. Aber sie war immer da. Diese Schwankungen und die Paradoxität der Rolle des Astrologen verlangen geradezu danach, interpretiert zu werden, weil in der Erklärung vielleicht ein tieferes Muster menschlichen Bewusstseins und der Art wie der Mensch über gesellschaftliche Randphänomene lernt und Probleme mit den unsagbaren Dingen hinter der bürgerlichen Moral löst. So ist es mit der Astrologie möglich, sich in transhumanistische, epistemische, neurosoziologische, psycholinguistische, narrationsanalytische, systemische und andere Dialoge experimentell aus Sicht des Horoskopeigners einzuklinken und ihm die Subjektivität der Überzeugungen zu spiegeln.

Manche sprechen schon vom Ende der ‚großen Erzählungen‘, doch die größte steht meiner Meinung erst noch bevor. Eine Mythologie, die den Menschen in ein positives Verhältnis zu der von ihm erschaffenen Maschinerie der Digitalisierung stellt, ohne ihn zu einem Sklaven mechanischer Weltbilder zu machen. Die ihm die Angst vor der omnipotenten Vorstellung des allmächtigen postmodernen Maschinengotts nimmt und an seine eigene Wirkmächtigkeit erinnert. Der Astrologe als Ideal des Begleiters von Entscheidungsfindungsprozessen hilft meiner Meinung nach dazu, Unvorhergesehenes und selbstproduzierte Widersprüche sichtbar zu machen und die ‚Lücken im System‘ zu finden, die uns eine Umdeutung der geistigen Erbes der dunklen Seiten der Geschichte der Menschheit erlauben.[12] Im systemischen Sinne ist der Astrologe allgemein ein Beobachter zweiter Ordnung, dessen Aussagen und Unterscheidungen sich überall auf der Welt weiter beobachten lassen, weil sie leicht universalisierbar sind. Wie in Band I gesehen, sollte man aber auch beachten: Der Astrologe ist blind für die Reproduktion seines ‚endlosen Wortsalats‘. Er ist ein Begleiter von symbolisch interpretierten Entscheidungsfindungs-Prozessen, die die Zahl der Wahlmöglichkeiten innerhalb der manchmal unüberschaubaren Lösungswege des Menschseins einschränken, ohne den Mensch auf eine einfache Kausalität zu begrenzen. Es geht allgemein um einen möglichst konkreten, persönlichen Ausschnitt der Wirklichkeit, der sich daraus ableitende Fragen konstruktiv befördern will, indem er sie in einen größeren Zusammenhang stellt und damit die soziale Wirklichkeit kritisch hinterfragt.[13]

Auch wenn der Klient nichts von Astrologie versteht, so lässt die universelle Symbolik überraschenderweise verallgemeinerbare Deutungen zu. Der Mensch kann sich nicht außerhalb der von ihm konstruierten Sachzwänge begeben und weil die Astrologie zu dieser Gesellschaftskonstruktion dazugehört ist sie auch auf jeden anwendbar. Der Astrologe bezieht seine Legitimation auch durch die Aufklärung über diesen Sachverhalt der Unfreiheit. Es ist allerdings verführerisch, die Determination, die aufgrund dieses historischen Prozesses entstanden ist, nicht als ‚göttliche Fügung‘ eines wie immer gearteten ‚Schicksals‘ auszugeben, über das der Astrologe gnädig wacht. In der Praxis geht es vielmehr, wie mir scheint darum, jenen zu helfen, die als ‘Opfer’ des von den jeweiligen Eliten implementierten Systems von der spirituellen Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen sind. Das ‚Belächeln‘ von ‚alternativen Kosmologien‘ scheint ein immanenter Bestandteil zivilisatorischer Prozesse geworden zu sein. Immer wenn sich ‚höherstehende‘ Kulturen der spirituellen Praxis der von ihnen unterworfenen Völker angenommen haben, ist diese Praxis der Herabwürdigung erfolgt, und Astrologie scheint darin eine zentrale Rolle zu spielen, da jede Kultur eine aus den Sternen abgeleitete Kosmologie besaß. Daraus entwickelt sich eine Haltung, die typisch ist für Untergrundphänomene. Um nicht seine eigene Existenz gefährden will und das bisschen Anerkennung, was er noch in der Gesellschaft hat, aufs Spiel zu setzen, ging der Astrologe historisch gesehen regelmäßig faule Kompromisse ein. Und das hat der Reputation des Faches natürlich nie geholfen. Sein Idealtypus ist so vor allem in dieser Figur des Ausweichens und Rumlavierens begründet.

Henrich schreibt: „Wenn er (Max Weber) eine Konstruktion unter Gesichtspunkten gibt, so nicht, weil er die in dieser Konstruktion gedachten Wirklichkeit als die gegebene Wirklichkeit ausgeben will, sondern um zu sehen, inwieweit die gedachten Zusammenhänge auch in der gegebenen Wirklichkeit vorliegen. (…) Der Idealtypus ist eine Konstruktion von Zusammenhängen, die in weniger konsequenter Form auch Wirklichkeits-Zusammenhänge sind.“[14] Die Zurückhaltung mit wertenden Aussagen und Prophezeiungen kann man so weniger als eine moralische Angelegenheit sehen, als eine systemimmanente Anpassung an die Gewalt der jeweiligen Herrschaftssysteme und den Zwang zur Assimilation spiritueller Weltbilder. Dabei wurde Astrologie regelmäßig als Ersatzreligion missbraucht und ihre Technik wie etwa bei Nostradamus zur Erzeugung hochtrabender Sprachbilder benutzt. Es ist sprachlich nicht möglich, keine Wertungen und Prophezeiungen abzugeben, weil rational systematisierte Sprache immer in eine subjektive Zukunft der inhärenten Logik verweist.  Doch kann man sich im Bewusstsein um die Wirkung selbst ein wenig disziplinieren. Wir alle müssen unsere Rolle spielen. Jeder von uns. Und nur manchmal erhaschen wir einen dieser Momente, der es erlaubt, einen Blick außerhalb des ganzen Theaters zu werfen, in dem wir nach unserer bescheidenen Identität suchen und einer kleinen Aufgabe, die uns innerhalb des zermalmenden Getriebes der großen Herrschaftssysteme legitimiert.


[1] Im Bauhaus wurden derartige Vorstellungen auch in der künstlerischen Umsetzung versucht, etwa in den Bildern von Oskar Schlemmer, die stilisierte seltsam puppenhaft wirkende Figuren in Treppenhäusern und Fabriken zeigen.

[2] Rolle und Idealtypus verhalten sich wie Signifikat und Signifikant. Das Signifikat ist dabei der ‘Inhalt’ des Signifikanten, auf den dieser verweist. Der Idealtypus gibt der Rolle ihre Bedeutung; in ihm wird symbolisch schon angelegt, was wir später durch Erwerb von Sprache als Rolle individuell ausdifferenzieren. Für Lacan ist das Symbol beliebig, es wird durch die kulturelle Praxis geformt und durch diese allein begründet.  

[3] Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, Bonn 1956

[4] Es geht dabei nicht um einen Ethnozentrismus, der die Überlegenheit der westlichen Welt gegenüber ‘wilden Völkern’ beweisen will. Im Gegenteil; diese sind längst nicht so korrumpiert und naturverachtend wie der Westen. Es geht um eine realistische Beschreibung der Idealbilder, mit denen wir aufwachsen und ein Verstehen der westlichen Organisationen, wie sie unser Leben beeinflussen; mit all ihren Übeln, aber auch Möglichkeiten. Der Klient selbst kann dann die Wahl treffen, was er davon annehmen will und was nicht.

[5] Was nicht unbedingt mit Geld oder Macht verknüpft sein muss. Die Herkunft aus einer ‘guten’ Familie ist nicht immer sofort sichtbar.

[6] Hans-Peter Müller, Max Weber, 2007, S. 230

[7] Wolfgang Schluchter, Individualismus, Verantwortungsethik und Vielfalt, 2000, S. 129

[8] Max Weber, Gesammelte Werke der Wissenschaftslehre, 1973, S. 191, aus Hans Peter Müller, Max Weber

[9] Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1968 S. 190

[10] Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, München 2004, S. 145

[11] Hans-Peter Müller, Max Weber, 2007. S. 111

[12] Beides hängt miteinander zusammen, weil das Unvorhergesehene oft nicht aus ‘Zufall’ entsteht, sondern Produkt der eigenen Verdrängung ist.

[13] Ein Löwe kann dann eben keine Jungfrau sein und ein Mars im Lebensabschnitt der Pubertät (Haus 12) keine Venus.

[14] Henrich, 1992, via Hans Peter Müller, Max Weber, S.65

Astrologie hat weniger mit einem Heilsanspruch als mit einer Methode zu tun, Vorstellungen von Zukünftigem der realistischen Selbsteinschätzung zugänglich zu machen. Sie beschäftigt sich nicht nur mit persönlichen Biographien und gesellschaftlichen Entwicklungen, sondern auch mit der Möglichkeit der Voraussage schicksalhafter Ereignisse. Insofern hat sie zum Teil Ähnlichkeit mit der Rolle des Zauberers und Propheten in der Antike. Max Weber widmet ihnen ein ganzes Kapitel seines Hauptwerkes ‘Wirtschaft und Gesellschaft’. Diese Figuren bleiben heute allerdings vor den unklaren religiösen Verhältnissen unscharf, wechselseitig animistisch bei Naturreligionen oder machthungrig bei monotheistischen Religionen geprägt, und selten ähnlich mit der konkreten Arbeit des modernen Astrologen.

Der Priester ist nach Weber eine Person, die im Kontext einer etablierten Religion mit festgelegtem Kult durch Verehrung Götter beeinflusst. Als Angestellter dieser Religion verfügt er normalerweise über berufliche Qualifikationen und ein umfangreiches Wissen der überlieferten Lehren. Die Priester bieten häufig Seelenanleitung für die Anhänger seiner Religion an und bildet auch Laien aus, die ihn unterstützen. Zauberer hingegen sind nach Max Weber diejenigen, die mit magischen Mitteln Einfluss auf Naturgeister, Engel und Dämonen ausüben. Man könnte sie heute mit Schamanen oder Lichtarbeitern vergleichen. Sie folgen selten regelmäßigen und üben ihre Tätigkeit individuell bei Bedarf und nach Bezahlung aus. Die Gaben sind oft naturalistischer Art, weil die Tätigkeit häufig verboten ist und von den offiziellen Religionen nicht gerne gesehen. Sie haben selten eine Anhängerschaft.

Die Sonderform religiöser Spezialisten stellt laut Weber Propheten dar. Sie besitzen ein besonderes Charisma und können größere Mengen von Menschen mit ihren Worten und Taten überzeugen. Sie handeln oft aufgrund einer persönlichen Berufung und fühlen sich schon in jungen Jahren berufen. Auch sie sind außerhalb des bestehenden Establishments angesiedelt, doch haben sie oft Berührungspunkte zu den Heiligen der etablierten Religionen. Im Unterschied zu den Zauberern nehmen sie selten Geld und führen auch keine Orakel oder Beschwörungen aus.  Die Übergänge sind fließend.

Max Weber schreibt: „Beides (Prophet und Priester) kann ineinander übergehen, und insbesondere ist nicht die Absicht des Propheten selbst maßgebend dafür, ob aus seiner Verkündigung eine neue Gemeinschaft entsteht; dazu können auch die Lehren unprophetischer Reformatoren den Anlaß geben. (…) Entscheidend ist für uns die »persönliche« Berufung. Das scheidet ihn vom Priester. Zunächst und vor allem, weil dieser im Dienst einer heiligen Tradition, der Prophet dagegen (zufolge) persönlicher Offenbarung oder kraft (seines) Charismas Autorität beansprucht. Es ist kein Zufall, daß, mit verschwindenden Ausnahmen, kein Prophet aus der Priesterschaft auch nur hervorgegangen ist. Die indischen Heilslehrer sind regelmäßig keine Brahmanen, die israelitischen keine Priester, und nur Zarathustra könnte vielleicht aus Priesteradel stammen. Im Gegensatz zum Propheten spendet der Priester Heilsgüter kraft seines Amtes. Freilich kann das Priesteramt an ein persönliches Charisma geknüpft sein. Aber auch dann bleibt der Priester als Glied eines vergesellschafteten Heilsbetriebs durch sein Amt legitimiert, während der Prophet ebenso wie der charismatische Zauberer lediglich kraft persönlicher Gabe wirkt. Vom Zauberer unterscheidet er sich dadurch, daß er inhaltliche Offenbarungen verkündet, der Inhalt seiner Mission nicht in Magie, sondern in Lehre oder Gebot besteht. Äußerlich ist der Übergang flüssig. Der Zauberer ist sehr häufig Divinationskündiger, zuweilen nur dies. Die Offenbarung funktioniert in diesem Stadium kontinuierlich als Orakel oder als Traumeingebung. (…) Die Christenheit des apostolischen und nachapostolischen Zeitalters kennt den wandernden Propheten als eine reguläre Erscheinung. Immer wird dabei der Beweis des Besitzes der spezifischen Gaben des Geistes, bestimmter magischer oder ekstatischer Fähigkeiten verlangt. Sehr oft wird die Divination ebenso wie die magische Therapeutik und Beratung »berufsmäßig« ausgeübt.

So von den im Alten Testament, besonders in den Chroniken und prophetischen Büchern, massenhaft erwähnten »Propheten« (nabi, nebî’îm). Aber eben von ihnen unterscheidet sich der Prophet im hier gemeinten Sinn des Worts rein ökonomisch: durch die Unentgeltlichkeit seiner Prophetie. Zornig wehrt sich Amos dagegen, ein »nabi« genannt zu werden. Und der gleiche Unterschied besteht auch gegenüber den Priestern. Der typische Prophet propagiert die »Idee« um ihrer selbst willen, nicht – wenigstens nicht erkennbar und in geregelter Form – um Entgelts willen. Die Unentgeltlichkeit der prophetischen Propaganda, z.B. der ausdrücklich festgehaltene Grundsatz: daß der Apostel, Prophet, Lehrer des alten Christentums kein Gewerbe aus seiner Verkündigung mache, nur kurze Zeit die Gastfreundschaft seiner Getreuen in Anspruch nehme, entweder von seiner Hände Arbeit oder (wie der Buddhist) von dem ohne ausdrückliche Bitte Gegebenen leben muß, wird in den Episteln des Paulus (und, in jener anderen Wendung, in der buddhistischen Mönchsregel) immer erneut mit größtem Nachdruck betont (»wer nicht arbeitet, soll nicht essen« gilt den Missionaren) und ist natürlich auch eines der Hauptgeheimnisse des Propagandaerfolges der Prophetie selbst.

Die Zeit der älteren israelitischen Prophetie, etwa des Elia, ist in ganz Vorderasien und auch in Hellas eine Epoche stark prophetischer Propaganda gewesen. Vielleicht im Anschluss an die Neubildung der großen Weltreiche in Asien und die nach längerer Unterbrechung wieder zunehmende Intensität des internationalen Verkehrs beginnt, namentlich in Vorderasien, die Prophetie in allen ihren Formen. Griechenland ist damals der Invasion des thrakischen Dionysoskultes ebenso wie der allerverschiedensten Prophetien ausgesetzt gewesen. Neben den halbprophetischen Sozialreformern brachen rein religiöse Bewegungen in die schlichte magische und kultische Kunstlehre der homerischen Priester ein. Emotionale Kulte ebenso wie die emotionale, auf »Zungenreden« beruhende Prophetie und die Schätzung der Rauschekstasen brachen die Entwicklung von theologisierendem Rationalismus (Hesiod) und der Anfänge der kosmogonischen und philosophischen Spekulationen, der philosophischen Geheimlehren und Erlösungsreligionen und gingen parallel mit der überseeischen Kolonisation und vor allem der Polisbildung und Umbildung auf der Basis des Bürgerheeres. (…). Und auch in Hellas war die einzige wirkliche Gemeindereligiosität: die orphische und ihre Erlösung durch das Merkmal einer wirklichen Heilslehre von aller anderen Art von Prophetie und Erlösungstechnik, insbesondere derjenigen der Mysterien, klar unterschieden.“[1]

Dieser längere Ausschnitt soll die Herangehensweise der Soziologie Webers verdeutlichen: Differenzen herauszuarbeiten aus den Rollen des ‘politischer Propheten’, ‘institutioneller Priester’ und ‘archaischer Magier’ festzustellen und daraus einen Idealtypus zu rekonstruieren. Der gesamte Text gibt auf geradezu unheimliche Weise einen Einblick in die Verknüpfung von Politik und Heilslehre, wie Weber sie extrahiert hat. Die Wirkungsweise der Prophezeiung wird deutlich durch die Art und Weise, wie das Charisma auf die Gefolgschaft um den Propheten wirkt. Es wird angedeutet, dass der Prophet im Gegensatz zum Priester subversiv und antistaatlich handelt, gleichzeitig aber auch bereichernd für das Verständnis der aktuellen Gesetze gewesen sein kann. Wie sich aber die Arbeit eines Propheten im Gegensatz zu Gurus und Jahrmarktzauberern gestaltet hat, bleibt offen. Die Beschreibungen führen auf die Spur, wie astrologische Arbeit zu dieser Zeit Einfluss genommen haben könnte und wie ihre Funktion der eigenen Gemeinde von den herrschenden Umständen geprägt war. Dabei muss man sich bewusst sein, dass Religion eine gut beschriebene Institution der Antike war und dass es sicherlich auch Formen der ‘Zukunftsforschung’ in anderen Bereichen der Gesellschaft gegeben hat, auf die die Astrologie Einfluss genommen hat. Darüber existiert allerdings so gut wie keine Literatur. Denn die monotheistischen Religionen haben im Laufe der letzte zwei Jahrtausende so gut wie jede Literatur zu dem Thema vernichtet. Erst das Projekt Hindsight mit der astrologiegerechten Übersetzung der wenigen gebliebenen antiken sternenkundig inspirierten Schriften hat etwas Licht in die Sache gebracht.[2]

In der heutigen Zeit spielt Zukunftsforschung nur eine untergeordnete Rolle. Von den meisten Wissenschaftlern wird sie als wissenschaftliches Fach abgelehnt. Zu komplex ist die Unterscheidung zwischen tatsächlichem Wissen, beruhend auf Theorie und Experiment auf der einen Seite und Glaube, Spekulation und Vermutung auf der anderen Seite. Denn die Zukunft entwickelt sich nicht linear kausal auf der Vergangenheit, sondern in Bezug zu verschiedenen Zeitlinien, in die sich das persönliche Leben nach Belieben einklinkt. Es gibt innerhalb der politischen Theorie Modelle, die das zukünftige Handeln abschätzen, es gibt Marktforschung und Wahlforschung. Auf die Untersuchungen wirkt allerdings oft der Wunsch des Auftraggebers ein, bzw. die Art der Fragestellung.

Welche ‚Trends‘ sich entwickeln hängt nicht zuletzt davon ab, in welche Themen die Marktforscher investieren. Sie sind schon Teil des ‚Produktplacements‘. Objektive Vergleichsmethoden werden häufig wegen hoher Kosten gescheut. Abweichende Ergebnisse sind auch gar nicht erwünscht. Manche versuchen trotzdem, mittels Extrapolation aus der Vergangenheit Wahrscheinlichkeitsmodelle die Zukunft zu finden, die verallgemeinerbar sind. Dabei kommt es wesentlich auf die Erstauswahl der möglichen Entwicklungen an. Doch wer hat das Internet vorausgesehen, wer den Mauerfall und wer die Marktforschung selbst?[3] Für die Astrologie erscheint es nicht vielversprechend, in diesem unsicheren Gebiet weitere Spekulationen hinzuzufügen. Und der religiös motivierte Prophet trifft ihre Kernrolle schon gar nicht, denn die meisten praktizierenden Astrologen stehen institutionalisierten Religionen negativ gegenüber. 

Um die historische Rolle der Astrologen adäquat nachvollziehen zu können, wäre eine breit angelegte Untersuchung nötig. Ich konnte im letzten Kapitel nur ein paar Gedanken zur Beziehung zwischen Horoskopdeutung und dem New-Age einwerfen, die die aktuelle Position der Astrologie bestimmt. Es existieren diffuse ‘artverwandte Idealbilder’ von Kristallkugellesern, Astro-TV-Protagonisten, okkulten Weltverbesserern und Lebenshilfeberatungskünstlern, die das Bild der Astrologie verwischen und die empirische und sozialkritische Herangehensweise der kleineren Anzahl von Astrologen, die sich ernsthaft mit der Materie auseinandersetzen, verzerren. Mit dem Einsickern therapeutisch-ganzheitlicher Ansätze in die Sozialwissenschaft, wie etwa Familienstellen, Erzählarbeit, Systembrett und diverser non-direktionaler Gesprächsführungsmethoden bekam die Astrologie ein neues Vorbild, mit dem sie sich auseinandersetzen konnte und ausloten, welche neuen Funktionsbereich sie in der Gesellschaft ausfüllen könnte.

Die heutige Rolle der Astrologie schält sich immer klarer heraus als eine alternative systemische Methode, um persönliche Entwicklungswege deutlicher aufzuzeigen. Auf der Suche nach ‚empirischen Qualitäten‘ im sozialwissenschaftlichen Sinne ist sie zunächst wenig ergiebig. Die Anbindung an psychologische Modelle führt in die Versuchung, Wirkungen der Sterne auf die menschliche Psyche anzunehmen, die auf ‘psychischen Mustern’, ‚genetischen Dispositionen‘ oder ‚epigenetisch bedingten Gehirnstrukturen‘ gründen. Sie sollen eine ‘Resonanz zu universellen Gesetzmäßigkeiten‘ aufweisen, doch derartige Theorien vernachlässigen zu sehr die soziologischen Umweltkomponenten. Muster kann man überall finden, wenn man nach ihnen sucht. Heute kann man mithilfe von KI und umfassender Datensammlungen aufgrund exakter Geburtszeiten sehr präzise Deutungen erstellen. Doch dem individuellen Menschen ist man damit kein Stück nähergekommen. Denn er verschwindet umso mehr in dem Maße (oder in der Masse), als sich die Lebensentwürfe in der digitalen Postmoderne angleichen und die Menschen aus Angst vor Nachteilen immer weniger über ihr wahres Innenleben preisgeben. Insofern ist es wirklich interessant, ob Astrologie in der Lage sein wird, diesen gordischen Knoten zu durchschlagen und in dem Versuch der Integration zwischen Cyberidentität und Besinnung Frieden, Gleichheit und individueller Entfaltung ein hilfreiches Tool zu werden.

Und damit auch die Rollen der modernen Priester, Schamanen, Zauberer, Propheten und Therapeuten näher zu beschreiben und unterscheiden. Denn das Spirituelle wird der transhumane Mensch nicht verlieren. Auch wenn ihm die alten Mythen nur noch auf Netflix, bei Computergames und im Escaperoom begegnen, so wird er auf der Suche nach einem höheren Sinn in seinem Leben bleiben und nach einer Antwort, warum bestimmte Schicksalsfäden zu manchen Zeiten zusammenlaufen und zu anderen nicht.


[1] Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft,  http://www.textlog.de/7910.html

[2] https://www.astro.com/astrowiki/de/Projekt_Hindsight

[3] http://www.horx.com/Zukunftsforschung/Docs/Integrierte-Systemische-Prognostik.pdf

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