Kapitel aus Astrologische Soziologie, Band III (erscheint voraussichtlich Frühjahr 2025)

Die Astrologie behauptet, dass unser Schicksal durch den Lauf der Sterne geprägt wird, bzw. dass gesellschaftliche Zyklen mit durch Planetenbewegungen hervorgerufenen korrespondieren. Dabei gehen wir weniger von einem monokausalen Zusammenhang aus, als von einer komplexen, Beziehung zwischen Menschen, Gesellschaft und interpretierten Standards von Zeiterleben. Eine rein deterministische Annahme von kausalen Wirkungen der Sterne auf den Menschen würde diesen nicht nur seinem Schicksal ausliefern, sondern auch dem astrologischen Berater einen ‘übersinnlichen’ Einfluss auf seinen Klienten einräumen. Beides kann innerhalb einer humanistischen Wissenschaft nicht erwünscht sein. Ein naturwissenschaftlicher ‘Beweis’ für die Wirkung der Sterne wäre zwar eindrucksvoll, er würde für eine Sozialwissenschaft aber eine gefährliche Einschränkung der Willensfreiheit und der Selbstbestimmung bedeuten. Wo gesellschaftliche Verhältnisse unverrückbare Kausalverhältnisse zeigen, ist ein totalitärer Hintergrund zu vermuten.

Die Anspielung auf eine bestimmte Zeit ruft nach Weitererzählung des persönlichen Empfindens, das solchermaßen auf den gesellschaftlichen Habitus spielerisch ‘trainiert’ wird, ohne strikte Vorgaben zu machen. Wann ist es erlaubt ein Bier zu trinken, wann zu heiraten, wann ein Kind zu zeugen? Verbindliche Rhythmen ergeben sich aus der Verhandlung und gemeinsamen Sinnfindung im Ausprobieren der Regeln. Anspielungen auf Zeit sind vor allem ökonomischen Verhältnissen und Denken unterworfen – die astrologische Deutung ist bereits seit der Antike in Gefahr, zum Erfüllungsgehilfen marktwirtschaftlich bedingter Entscheidungen zu werden, wenn sie das zugrundeliegende Menschenbild nicht hinterfragt, das den systemüberdrüssigen Menschen mit Therapie und Pille ‘kuriert’. 

Meist kommen Klienten ja in Krisensituationen. Diese Krisen zeigen sich im Horoskop durch Transite von Langsamläufern auf persönliche Planeten und Zeichenwechsel von den Progressionen der Schnellläufer. Dann entstehen neue Rollenmuster und der Klient möchte wissen, wohin ihn diese Veränderungen führen. Auch wenn mehrere äußere Planeten die Zeichen wechseln, wie das etwa um das Jahr 2025 herum geschieht, dann wechseln sich auf einer kollektiven Ebene die Rollen für eine größere Menge von Menschen. Populisten und Zukunftspropheten versuchen ihnen dann weiszumachen zu wissen, was die neuen Rollen sind. Doch liegt es ja gerade in der Natur eines Wechsels, dass man sich von gewohnten Anschauungen trennen muss, weil diese nicht mehr funktionieren. Niemand kann vorhersagen, wohin solche neuen kollektiven Reisen gehen. Sie entstehen aus dem Individuum und seinem Willen zur Veränderung.

Dabei sind Geheimisse und Rituale sehr wichtig, wie C.G. Jung im vorletzten Kapitel seiner Biographie betonte.[1] Menschen, die alles ausplaudern und zu allem eine gesellschaftskonforme oder gruppenkonforme Meinung abgeben, haben im Grunde gar keine eigene Meinung und sind haltlos. Sie vertrauen nicht auf ihre eigene innere Wahrheit und bilden mit der Zeit neurotische Züge aus. Es ist die Aufgabe des Astrologen und Psychotherapeuten, diese intimen Rituale wieder herzustellen und das Selbstbewusstsein, auf die innere Wahrheit zu vertrauen. Dann stellen sich auch wieder differenzierte Wahrnehmungen ein und tiefere Beziehungen, mit denen die eigene Wahrheit exklusiv geteilt wird und die Zwischenwände zum Unterbewussten durchlässiger werden, wie C.G. Jung es ausdrückt. Die dazu passenden Rituale von Kerzenscheinromantik über Geburtstagsfeier bis zu Musikfestivals haben eigene Zeitdimensionen, die außerhalb der gesellschaftlichen Gepflogenheiten laufen. Die Offenbarungen der ‚wahren Natur‘ werden zu besonderen Anlässen zelebriert und besitzen oft interessante Horoskope, die die Übereinstimmung der individuellen Wünsche mit tieferen kollektiven Dynamiken verdeutlicht. Diese unsichtbaren Synchronizitäten sichtbar zu machen ist die Kunst der Horoskopdeutung.

Um diese wenigen schicksalshaften Augenblicke aufzuspüren und ihre Bedeutung ins Bewusstsein zu bringen, braucht es eine große Menge an Daten und zuverlässigen Tabellen, die die Zeitverläufe anzeigen. Die Falle besteht darin, in diesem Zahlenwust beliebige Muster hineinzuinterpretieren. Wenn Astrologen ihre Aussagen über die Referenz-Zeit der Planeten im Sonnensystem in der Projektion auf das menschliche Schicksal kontrollieren versuchen, so geraten sie immer wieder in die selbstreferentiellen Schleife der ‘Schicksalsausgeliefertheit‘ hinein, weil man versucht, den eigenen Fatalismus auf die Welt zu stülpen und nicht mehr offen für das Wunder der Welt zu ein. Nur die Erfahrung aus Tausenden von Horoskopen kann in diesem Labyrinth einen roten Faden erkennen, so wie der Schachspieler, der zehntausende von Partien gespielt und analysiert hat. 

Das ist aber auch in anderen Systemen so. Nicht nur die Astrologie produziert ihre Widersprüche. Nach Luhmann muss jedes Gesellschaftssystem seine Paradoxien in den Griff bekommen. Genauso wenig wie das System Wirtschaft Armut, Hunger und Misserfolg abschaffen kann, kann das System Justiz das Unrecht in der Gesellschaft aufhalten. Es befördert es zuweilen sogar, wenn es Deals mit Gegnern eingeht, die ihm überlegen sind. Und  trotzdem funktioniert dieses Rechtssystem, weil es sich auf die Operationen konzentriert, die es zum Experten von Rechtsfragen werden lassen. Und so versucht auch der Astrologe die psychischen Abläufe zu kontrollieren und Meister der Zeitlogik zu werden, obwohl er sie nie ganz zu greifen bekommt. Es erscheint unmöglich, die dabei auftretende Komplexität in den Griff zu bekommen, und doch ist der geübte Astrologe in der Lage, dem Klienten im richtigen Moment die entscheidenden Bilder zu liefern, die ihm eine Erklärung des numinosen Geschehens geben.

Der Vorgang ist am Anfang sehr simpel und wird dann in der Vertiefung eines Themas sehr schnell unübersichtlich. Die Vorgabe von Zeitbestimmungen ruft den Wunsch nach weiteren Anschlussdeutungen hervor. Wir wollen einfach wissen, wie es weiter geht. Der Klient findet angeregt durch ein paar gezielte Bemerkungen, den roten Faden bei längst verdrängten seelischen Inhalten wieder, knüpft an vergangene Situationen an und kann sich wieder eine konstruktive Bedeutung in der Zukunft vorstellen. Er offenbart sein Geheimnis in einem heiligen Moment und wird sich dabei der Wichtigkeit der Exklusivität wieder bewusst. Dabei genügen oft schon einige wenige passende Metaphern, denn das Horoskop spricht eine uralte von verschütteten Inhalten durchtränkte Sprache. Besonders in Krisenzeiten sind viele Dinge nicht offen aussprechbar und werden in oberflächliche Worthülsen und ideologische Verbrämung gepackt. Der Mensch hat einen immer größeren Wunsch, wieder zu echten und authentischen Beziehungen zurückzukehren. Deshalb boomt die Astrologie auch immer in den Zeiten gesellschaftlicher Veränderungen.

Obwohl die meisten Informationen erstmal an uns vorbeirauschen und selten sofort einen Erkenntnisgewinn bringen, spüren wir uns immer ein Stück besser, wenn wir das innere Erleben mit äußeren Geschehnissen in Einklang bringen können. Mit der Zeit werden die Begriffe präziser. Wann immer wir bemerken, dass etwas aus etwas anderem erfolgt zu sein scheint, haben wir dafür mit der Zeit unseres Horoskopstudiums immer passendere Erklärungen parat. Und so bildet sich langsam ein neues Narrativ, das die alten krankmachenden Muster durchbrechen kann. Astrologie hilft uns, den innersten Symbolen ‘treu zu bleiben’ und sie auf die Veränderungen anzuwenden, die uns betreffen. Sie sprechen eine Art Geheimsprache, die nur die besten Freunde in der Lage zu entschlüsseln sind. So bewahren wir uns durch besondere Beziehungen vor der Profanisierung der Heiligtümer. In meinem Buch ‚Astrologie und Psychoanalyse‘ habe ich auf die Vorrangstellung des Planeten Venus in der Antike hingewiesen und auf ihr Präsenz in Horoskopen von Analytikern und Therapeuten.

Der Mensch ist deshalb ein autonomes Wesen, weil er das Recht dazu hat, seine Wahrheit für sich zu behalten. Dann kann er sich auch im Einklang mit der Außenwelt spüren. Wenn er sicher ist, dass niemand sein ‚Heiligtum‘ ausbeuten möchte und ihn in eine Meinung zwängen, die nicht seinem Innersten entspricht. Es geht in Beratungen weniger um Festlegungen von ‘Charaktereigenschaften’ und ‘Symptomatiken’, als um sich entwickelnde Bilder von privaten Ritualen, die sich vom Allgemeinen der Welt zum Besonderen entwickeln. Dabei wird uns bewusst, wie sehr wir doch von den Einstellungen der Menschen abhängig sind, die wir besonders lieben und ihren Erwartungen zu entsprechen versuchen (so dass vieles ‘berechenbar’ wirkt, wenn man den Menschen in diesen Situationen erlebt). Aber in der Liebe erscheint gleichzeitig auch die Freiheit, zu den ureigenen Bedeutungen zu finden und damit steigt die Bereitschaft, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Und darin liegt auch die Lösung für die Rückkehr zu einem gesunden selbstbestimmten Leben. In jeder Aktion die schöpferische Kraft des Universums wiedererleben zu können.

In dem Maße, wie der Mensch Verantwortung innerhalb der Gemeinschaft übernimmt, wird seine Handlung dann systematisch besser beschreibbar. Die Beratung kann an konkrete Ereignisse anknüpfen und helfen, den Horizont zu erweitern. Die Astrologie ist selbst eine Institution, deren Symbole Identität innerhalb der ritualisierten Kommunikationen schaffen. Ihre Typen sind Idealbilder geordneter Gesellschaftverhältnisse; gleichzeitig aber möchte sie den gesamten Menschen auch in seinen individuellen Eigenschaften erfassen. Damit bildet die Astrologie den Spannungsbogen der ‘vernünftigen Erwartungen’ und einer gesellschaftskritischen Haltung ab, die von jedem Menschen trotz der damit verbundenen Widersprüchlichkeit verlangt wird.


[1] C.G. Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken, Patmos, 2024

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